Ersehnt
dunkel bist, dass es keine Wahl mehr gibt?«, fragte River.
»Es gab nie eine Wahl«, antwortete ich niedergeschlagen. »Das war ... eine Illusion. Oder Wunschdenken. Aber es gibt kein Entrinnen.« Das tat viel mehr weh, als ich erwartet hatte.
»Nastasja, hör mir zu.« River sah sehr ernst aus und legte mir beide Hände auf die Schultern, um mich zu zwingen, dass ich sie ansah. »Es gibt immer, immer, immereine Wahl. Das musst du mir glauben. Die meisten von uns fangen in der Dunkelheit an. Viele von uns bleiben auch dort. Ich weiß nicht, ob das typisch für Unsterbliche ist, aber ich habe es überall auf der Welt erlebt. Aber ich weiß ebenso sicher, dass man immer eine Wahl hat. Egal, wie dunkel du bist, egal, was du für dein Erbe hältst oder wie unausweichlich dein Untergang scheinen mag, du kannst immer in der nächsten Sekunde die Wahl treffen, dich zu ändern.«
Das hatte ich schon einmal gehört. Sie verstand es nicht. Gut, ihre Familie hatte mit Sklaven gehandelt, was schlimm war. Aber meine Eltern hatten ihre Geschwister ermordet. Und wahrscheinlich noch schlimmere Dinge getan. Dinge, die ich hoffentlich nie herausfinden würde.
»Ich sehe, du glaubst mir nicht«, sagte River, als von mir nichts mehr kam. »Du glaubst, ich würde es nicht verstehen und dass du und deine Familie so viel dunkler wärt als meine.«
Verdammt. »So ausdrucksstark ist mein Gesicht nicht.« »Nas, ich kenne dich.« Ihre Stimme klang sanft, aber ein;dringlich. »Ich kenne dich wirklich. Ich kenne dich bis ganz tief innen drin. Ich sehe alles, was du bist, hell und dunkel und alles dazwischen. Ich sehe Dinge, die du noch gar nicht entdeckt hast. Und ich liebe dich genau so, wie du bist.« Mir schnürte sich der Hals zu. Sie log mich an. Ich fragte mich, ob ich es schaffen würde, aus dem Fenster zu springen, bevor River mich aufhalten konnte.
»Vergiss es, es ist verriegelt«, sagte sie.
»Du belauschst mich!«, beschuldigte ich sie wütend. »Ich bitte dich. Du hasst es, über deine Gefühle zu reden.Im Moment fühlst du dich so unbehaglich, dass du dich förmlich windest, du hast einen >Halt-den-Mund<-Ausdruck im Gesicht und deine Augen sind zum Fenster gehuscht. Das hätte ein Kindergartenkind deuten können.«
»Ich muss hier raus.« Ich stand so schnell auf, dass ich sie beinahe umgeworfen hätte. Schnell wie der Blitz packte sie meine Hand und zog an ihr. Ich plumpste hart aufs Bett, was meine Nase und alles andere erschütterte. Ich war geschockt - ich hatte nicht einmal gesehen, wie sie sich bewegt hatte.
»Du wirst hierbleiben und mir zuhören«, sagte sie. Ihre Stimme klang so stählern wie nie zuvor und ich machte vor Erstaunen große Augen. »Ich muss dir etwas zeigen.«
Ich machte den Mund auf - ich wusste nicht einmal, was ich sagen wollte - aber im nächsten Augenblick hatte River schon die gespreizten Finger auf mein Gesicht gelegt. Sie murmelte etwas und zeichnete mit der freien Hand ein paar Sigils auf mich.
Und nur Momente später sah ich ... eine Szene. Es war nicht wie beim letzten Mal, als ich das Gefühl hatte, tatsächlich dort zu sein, alles zu riechen und den Wind im Gesicht zu spüren. Dies hier war flacher - eher so, als würde man einen Film sehen. Die Ränder waren verschwommen, und wenn ich zu lange auf einen Punkt starrte, verblasste er. Wieder sah ich die junge River, schwarzhaarig und wunderschön, mit einem harten Lächeln und Augen von der Farbe eines Steins in einem eisigen Fluss. Ich sah die beiden Männer, die auch auf der Sklavenauktion gewesen waren, ihre Brüder, und da waren noch zwei weitere Männer. Ich sage zwar Männer, aber eigentlich sahen sie alle noch sehr jung aus, höchstens Anfang Zwanzig. Die Familienähnlichkeitverriet mir, dass es ihre beiden anderen Brüder waren. Sie hatten alberne Frisuren und die Art, wie sie gekleidet waren, war zum Zeitpunkt meiner Geburt schon antik gewesen. Ich spürte River neben mir, die jetzt halblaut vor sich hin sang.
Die junge River und ihre Brüder befanden sich in einem kleinen, dunklen Raum, dessen Wände aus geschwärztem Holz bestanden. Sie waren auf einem Boot. Sie standen um einen Tisch herum, auf dem eine einzelne Kerze flackerte. »Dann ist es beschlossen?«, fragte einer der Brüder. Ich konnte ihn verstehen, obwohl er Mittel-Italienisch gesprochen haben musste.
»Ja«, hestätigte Diavola. »Wenn sie auf dem Weg nach Savona sind, im Wald, zwei
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