Ersehnt
Tisch, reichten Teller mit Eintopf, Brotkörbe und Löffel herum. Ich war verlegen - alle wussten von meinem Unfall, und als ich mich in dem großen Spiegel sah, erschrak ich. Ich sah so hässlich aus, so ganz anders als sonst. Ich hatte mich schon vorher fehl am Platz gefühlt. Aber jetzt kam ich mir vor wie eine blinkende Neonreklame in einer Wüstennacht.
Ich wollte gerade ein Stück Brot abbrechen, als mir eine Bewegung auffiel. Sofort ließ ich das Brot fallen: Es waren Maden darin. Lebendige Maden, die sich durchs Brot fraßen. Brynne kreischte auf und ließ ebenfalls, ihr Brot fallen. »Seht euch das Brot an! «, rief sie geschockt.
»Was zum ... «, begann River.
»Ich habe das Brot heute gebacken! «, verteidigte sich Rachel. Charles hatte einen Löffel voll Eintopf gegessen und jetzt weiteten sich seine Augen. Er sprang von der Bank und rannte in die Küche. Wir konnten hören, wie er sein Essen in den Ausguss spuckte.
»Probier den Eintopf«, sagte Asher leise zu Solis. »Aber nur ein ganz kleines bisschen.«
Solis tauchte seinen Löffel kaum ein und leckte zögernd daran. Dann verzog er das Gesicht und legte den Löffel weg. »Äh ... «
Auch Amy steckte einen Finger in ihren Teller und probierte das Essen. Sie spuckte es sofort zurück auf den Teller - kein wohlerzogenes Flüchten in die Küche, um uns die Spuckerei zu ersparen. Sie sah geschockt aus. »Der Eintopf war noch vor fünf Minuten tadellos«, versicherte sie.
»Ich habe ihn gekostet«, bestätigte Rachel. »Er war sehr lecker.«
»Und jetzt schmeckt er, als hätten wir mit Aas gekocht. Pures Gift.« Anne setzte sich hin, als hätte ihre ganze Kraft sie verlassen.
»Und das Brot«, sagte River mit ernster Miene. »Wann hast du es gebacken, Rachel?«
Reyn war aufgestanden und hatte das madenverseuchte Brot eingesammelt. Als er alles hatte, verschwand er damit durch die Schwingtür in die Küche und kurz darauf hörten wir die Hintertür zuschlagen.
»Heute Nachmittag«, sagte Rachel, »Es ist gar nicht lange her. Deswegen ist es auch noch warm.«
»Und du hast nicht das Madenrezept ausprobiert?« Solis versuchte einen Scherz zu machen, lächelte aber nicht. »Nein«, sagte Rachel. Sie und Anne sahen aus wie vom Donner gerührt.
Ich war genauso panisch wie alle anderen, aber dann er;kannte ich' es: meine Dunkelheit. Ich hatte das getan. Das Essen war einwandfrei gewesen, bis ich nach unten gekommen war.
»Oh, mein Gott, das bin ich«, murmelte ich.
»Was?«, sagte Jess neben mir.
Ich warf noch einen Blick in die Runde und erhob mich ruckartig von der Bank. »Ich bin es. Ich habe das ausgelöst. Ich habe den Unfall verursacht. Ich habe die Bibliothek ex;plodieren lassen. Ich bin für all die schlimmen Dinge verant;wortlich.«
»Wovon redest ...«, begann Asher, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»In der Silvesternacht habe ich versucht, meine eigene Dunkelheit loszuwerden«, gestand ich und wurde immer hektischer. »Aber ich habe sie stattdessen freigesetzt. Merkt ihr das nicht? Ich bin es. Ich bin an allem schuld! lch!«
»Nastasja«, sagte Solis. »Ich glaube nicht ... «
»Ich kann nicht hierbleiben! «, schrie ich und rannte aus dem Esszimmer. Ich hetzte die Treppe hinauf, als wäre der Teufel, an den wir nicht glaubten, hinter mir her. Ich schämte mich für meine Vergangenheit, meine Dummheit und dafür, dass ich mich so lange geweigert hatte, etwas zu lernen. Ich war schockiert über meine Eltern, die ich so geliebt hatte, und von meinem Erbe. Wenn ich früher schon das Gefühl hatte, über mein eigenes Leben nachzudenken wäre schmerzhaft, dann war das, was ich jetzt durchmachte, so unerträglich, als hätte mir jemand Säure ins Gehirn gekippt.
Als ich das letzte Mal von hier weggefahren war, hätte ich bleiben müssen, wollte es aber nicht. Aber jetzt musste und wollte ich bleiben. Doch offensichtlich verbreitete ich hier nur Zerstörung und schadete allem und jedem. Nach einem langen Leben des Weglaufens hatte mich meine Vergangenheit eingeholt.
Ich stürzte in mein Zimmer und hatte das Gefühl, mein Kopf würde gleich zerplatzen. Ich sah mich hektisch um und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Jetzt, wo ich über meine eigene Dunkelheit Bescheid wusste, gab es keine Möglichkeit, dieses Wissen wieder loszuwerden - und es trieb mich in den Wahnsinn.
Ich hörte ein Geräusch und erkannte, dass River mir ins Zimmer gefolgt war. Sie nahm meinen
Weitere Kostenlose Bücher