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Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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erschöpft und traurig aus: Es hatte einen Unfall gegeben. Onkel Geir hatte meinen Vater lachend zu einem Wettrennen herausgefordert, obwohl er unser Land nicht kannte. Mein Vater hatte ihn gewarnt, aber Geir hatte nicht hören wollen. »Er war schon immer ein Sturkopf«, sagte mein Vater.
    Onkel Geir und seine Männer waren durch den Wald galoppiert, obwohl mein Vater hinter ihnen herschrie, vorsichtig zu sein. Wie wir alle wussten, hörte der Wald an einer Stelle abrupt auf und das Land fiel dahinter zu einer Steilklippe ab. Hier hatte sich das Meer ein Stück Festland zurückerobert und über die riesigen scharfkantigen Felsen am Fuß der Klippe schwappten schaumige Wellen. Mein Onkel und seine Männer hatten ihre Pferde nicht mehr rechtzeitig stoppen können und waren alle über die Klippe gestürzt. Als mein Vater und seine Männer mit ihren Seilen endlich unten angekommen waren, hatte das Meer die Verunglücktenschon weggespült.
    Ich weinte, als mein Vater uns davon berichtete, und Eydis und Haakon ebenso. Meine älteste Schwester Tinna und mein großer Bruder Sigmundur nahmen die Nachricht so gefasst auf, wie es sich für die Kinder von Ülfur, dem Wolf gehörte. Aber ich schluchzte in den Rock meiner Mutter. Mein einziger Onkel und nun war er für immer fort. Was für eine Tragödie.
    ***
    Ich blinzelte langsam und ließ die grandiosen Steinklippen Islands zurück, um in meinem gemütlichen Zimmer in River's Edge aufzuwachen. Ich hatte seit Jahrhunderten nicht mehr an meinen Onkel gedacht. Jetzt, als Erwachsene, erkannte ich natürlich die Wahrheit. Mein Onkel und seine Männer waren nicht bei einem tragischen Jagdunfall gestorben. Mein Vater und seine Männer hatten sie getötet, damit er der einzigüberlebende Bruder war und die gesamte Macht der Familie besaß.
    Mit einer Mischung aus Trauer und Entsetzen legte ich eine Hand vor meinen Mund. Bis Geir auftauchte, hatte ich nicht einmal gewusst, dass es ihn gab. Und anscheinend waren da noch andere gewesen - die auch von meinem Vater ermordet worden waren? Oder von Geir? Meine Gedanken huschten von einem uralten Gesprächsfetzen und Erinnerungsschnipsel zum nächsten: Ich hatte als Kind keine Cousins oder Cousinen, dachte immer, meine Eltern wären beide Einzel;kinder gewesen und dass ihre Eltern schon früh gestorben waren. Jetzt wusste ich nicht mehr, was von alldem noch an Wahrheit übrig blieb. Vielleicht hatten sie auch einfach syste;matisch daran gearbeitet, Alleinerben zu sein.
    Meine Mutter hatte die Wahrheit über den Tod meines On;kels gekannt - da war ich ganz sicher. Sie hatte den ganzen Tag finster und entschlossen gewirkt. Eigentlich hatte ich meinen Vater immer als den strengen, machthungrigen Herrscher gesehen. Aber jetzt erkannte ich, dass meine Mutter ihm in jeder Hinsicht ebenbürtig gewesen war.
    Bis ich ungefähr zwanzig war, hatte ich nicht einmal gewusst, dass ich unsterblich bin. Das war schon ein echter Schock gewesen. Bevor ich nach River's Edge gekommen war, hatte ich noch nicht durchschaut, dass mein Vater der Anführer eines der acht bedeutenden Häuser von Unsterblichen gewesen war. Und erst jetzt, in diesem Augenblick, hatte mein Gehirn die Verbindung hergestellt und erkannt, was er und meine Mutter vermutlich getan hatten, um sich diese Position zu sichern.
    Ich war das Kind von Mördern.
    Mir kam ein weiterer Gedanke: Bei allem, was die beiden über die gnadenlose, tödliche Rivalität unter Geschwistern wussten - wieso hatten sie dann fünf Kinder in die Welt gesetzt? Ich setzte mich im Bett auf und schlang die Arme um die Knie. Ich war jetzt hellwach. Mein Atem ging in kurzen Stößen, denn mir war etwas klar geworden. Natürlich würde ich es nie mit Sicherheit wissen, aber der Gedanke tauchte kaum auf, als er auch schon wie ein Stein in meinem Magen landete. Meine Eltern hatten fünf Kinder, obwohl sie genauwussten, dass nur einer von uns der Anführer des Clans werden konnte. Meine Brüder und Schwestern und ich hatten einander geliebt. Wir hatten alles geteilt, miteinander gespielt und einander geholfen.
    Es war eine Sache, einen Fremden oder Feind zu töten. Aber es war etwas ganz anderes, wenn man den Ehrgeiz besaß, jemanden zu töten, den man liebte. Ein Mensch, der stark genug war, Geschwister zu töten, die er liebte - der wäre wirklich sehr stark. Dieser Mensch würde rücksichtslos und entschlossen genug sein, um der nächste Anführer

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