Ersehnt
schmunzelte. »Sie ziehen mich an den Feiertagen immer noch damit auf.«
Ich verstand nicht, wie sie heute so ... normal sein konnte. Nach allem, was sie gewesen war.
»Die meisten von uns fangen in der Dunkelheit an«, sagte sie wie schon zu Beginn unserer Unterhaltung. »Manche erheben die Dunkelheit zu einer Kunstform. Ich versuche, denen zu helfen, die nicht länger auf der dunklen Seite stehen wollen. Immer einer Person nach der anderen. Und jetzt bist du an der Reihe.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
River erhob sich so graziös, als hätte sie mich nicht gerade mit ihrer Enthüllung geschockt. »Bleib ruhig noch liegen und ruh dich aus. Du kannst dann zum Abendessen nach unten kommen.«
Ich nickte langsam und sie verließ mein Zimmer. Ich zog wieder die Beine an die Brust und legte meine geprellte Wange vorsichtig auf eines meiner Knie. Das war alles zu viel auf einmal.
15
Das kennt bestimmt jeder: Man zermanscht etwas in einem Mixer und hat ein bisschen zu viel von dem Zeug, und weil man es nicht wegwerfen will, stopft man es auch noch hinein. Und wenn man dann den Mixer anstellt, spritzt alles unter dem Deckel raus.
Genau so fühlte sich mein Gehirn zurzeit an. Fast mein Leben lang musste ich ein oder zwei neue Ideen oder Konzepte pro Jahr verarbeiten. Wie etwa Elektrizität. Also, das war ein bedeutendes Jahr. Aber in den letzten beiden Monaten hatte ich es mit mehreren gigantischen, erschüt— ternden Erkenntnissen am Tag zu tun gehabt. Und jetzt kam mir das alles zu den Ohren raus. Bildlich gesprochen.
Die Glocke läutete zum Abendessen. Ich seufzte, wickelte mir den Schal fester um den Hals und ging hinaus.
Zwei Türen weiter kam Reyn gerade aus seinem Zimmer. Ich begann, mir ein Lächeln aufs Gesicht zu zwingen, um nicht auszusehen wie ein paranoider Loser, aber mein Lächeln erstarrte, als Amy lachend hinter ihm aus seinem Zimmer tänzelte.
»Und du hast ihn einfach dagelassen?«, fragte sie ihn kichernd. Reyn nickte und sah viel jünger und unbeschwerter aus als sonst. »Ganze anderthalb Tage.«
Amy lachte wieder und lehnte sich gegen ihn.
Dann sahen sie mich.
Hier der Beweis, dass ich wirklich anfange, erwachsen zu werden: Ich zwang mir tatsächlich dieses Lächeln ins Gesicht. Es sah zwar vermutlich eher nach einer schmerzlichen Grimasse aus, aber es war das Beste, was ich hinkriegte.
Amy kam sofort zu mir, ehrliche Besorgnis im Gesicht.
»Ich habe gehört, was passiert ist«, sagte sie. »Es tut mir so leid! Aber Anne hat dich verarztet, nicht wahr?«
»Ja.« Ich hatte das Klebeband langsam und unter Schmerzen abgezogen. Aber mit meinen beiden blauen Augen konnte ich jedem Waschbären Konkurrenz machen.
Amy beugte sich mit Verschwörermiene dicht zu mir. »Hat sie dich Tee trinken lassen?« Ihre Augen waren voller Wärme und Humor und ich konnte nicht anders - ich mochte sie. Es war nicht ihre Schuld, dass Reyn und ich eine grässliche, verwirrende Geschichte teilten und dass ich ein emotionaler Trottel war.
»Ja.«
»Ich wusste es«, sagte Amy. »Als wäre Tee ein Allheilmittel.
Aber gegen alles hilft er nicht.«
Diesmal lächelte ich wirklich.
»Geht es dir besser?«, fragte Reyn höflich. Er hatte mein ramponiertes Gesicht ja schon gesehen, also war es für ihn keine Überraschung.
Was für ein relativer Begriff, besser. Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht. «
Reyn machte den Mund auf, als wollte er noch etwas sagen, aber wir waren inzwischen am oberen Treppenabsatz angekommen und trafen dort auf Charles und Jess. Jess sagte nichts zu meinem Aussehen, aber Charles nickte. »Der Look steht dir.«
Ich knuffte seinen Arm und er grinste. Da wurde mir bewusst, dass die Leute hier richtig nett waren. Netter als die meisten anderen, die ich kannte. Ich war das einzige Instrument in diesem kleinen Orchester, das nicht richtig gestimmt war.
Im Esszimmer kam Anne gerade durch die Küchentür herein. Ihre Hände steckten in feuerfesten Handschuhen, weil sie die große Schüssel mit dem Eintopf vor sich hertrug. Sie setzte sie auf dem Tisch ab und drehte sich zu mir um. »Du siehst schon viel besser aus.« Sie trat einen Schritt zurück und grinste. »Verdammt, bin ich gut.«
»Das war der Tee«, widersprach Amy todernst und Reyn grinste. Einen Moment lang herrschte im ganzen Raum eine wohlige Wärme - sein Gesicht war wie verwandelt, wenn er lächelte, wenn seine Augen aufleuchteten.
Kurz darauf saßen wir alle am
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