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Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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ihn kannte.
    Ich richtete mich auf, denn mir war plötzlich ein beunruhigender Gedanke gekommen. Genau in diesem Moment
    sackte das Mädchen zusammen. Aha, also doch zu viele Drinks. Incy führte sie zu einer kleinen Brokat-Couch an der Wand und ich war erleichtert. Er versuchte also nicht, sie abzuschleppen. Er traf die richtige Wahl und ich war stolz auf ihn. Ich lächelte, als er fürsorglich ihren Kopf auf die Armlehne legte, doch dann sah ich es: sein triumphierendes Lachen.
    Ein paar Sekunden lang kapierte ich gar nichts. Aber dann lief mir ein so eisiger Schauer über den Rücken, als stünde ich auf einem Gletscher. Nein ... Incys Gesicht. Sein triumphierendes Grinsen. Das schlaff daliegende Mädchen, dessen Brust sich unter unregelmäßigen Atemzügen ohne jeden Takt hob und senkte. Incy stand da und sah auf das Mädchen hinab. Er holte tief Luft. Seine Augen leuchteten, die Haut glühte. Er sah aus ... wie wir in River's Edge alle nach einem Zirkel ausgesehen hatten: voller Leben. Voller Magie. Mir blieb der Atem im Hals stecken wie ein Holzklotz.
    Es sah aus, als hätte er seine Magie bei ihr eingesetzt, bei einem ganz normalen Menschen. Jeder und alles hat Kraft, unsterblich oder nicht. Unsterbliche haben natürlich viel mehr. Incy hatte dem Mädchen eine Beschwörung ins Ohr gemurmelt und ihre Energie gestohlen. Ich war mir dessen nicht ganz sicher, konnte es nicht beweisen, aber etwas tief in mir sagte: Doch. Genau das hat er getan.
    Eine Minute lang stand ich nur da wie eine von diesen überteuerten Statuen, das Glas auf halbem Weg zu den Lippen. Incy war mir so anders vorgekommen. So normal und kein bisschen böse. War er doch so dunkel, wie ich befürchtet hatte? Was machte er dort drüben? Ich setzte mich in Bewegung und wollte zu den beiden, wurde aber sofort durch eine Gruppe von Leuten gestoppt, die sich ein Gemälde ansahen, während jemand einen Vortrag darüber hielt. Ich spähte zwischen den Besuchern hindurch und sah, wie Incy sich von dem Mädchen entfernte. Lebte sie noch? Hatte er sie umgebracht? Meine zunehmende Hektik löschte das angenehm angetrunkene Gefühl in mir aus und ich versuchte, mich zwischen zwei Anzugträgern durchzuquetschen. Was würde ich machen, wenn sie tot war? Was, wenn Magie sie retten könnte, ich aber nicht wusste, wie?
    Schließlich drängte ich mich grob durch, und als ich auf der anderen Seite ankam, waren schon zwei Freundinnen da und rüttelten an ihrer Schulter. Das Mädchen auf der Couch blinzelte langsam und setzte sich mühsam auf. Ich verlangsamte meinen Schritt. Sie war nicht tot. Ihre Freundinnen lachten und zogen sie damit auf, dass sie zu viel getrunken hatte, aber sie schüttelte nur verwirrt den Kopf. Ich hörte eine Freundin sagen: »Nimm dir ein Taxi und sieh zu, dass du ins Bett kommst, du Schnapsnase«, und hoffte, dass sie okay war. Es gelang ihr, aufzustehen und die Galerie mit Hilfe ihrer Freundinnen auf eigenen Beinen zu verlassen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie sich am nächsten Morgen fühlen würde.
    Ich hatte keine Ahnung, wo Incy das gelernt hatte.
    Ich hatte keine Ahnung, wie ich damit leben sollte. Was sollte ich jetzt tun?

20
    In dieser Nacht hielt ich meine Tradition aufrecht, von denen zu träumen, die gerade nicht bei mir waren. Ich träumte von River's Edge.
    Ich stand an dem Zaun, der die Rehe vom Gemüsegarten fernhält. Ich war ganz in Schwarz gekleidet und trug meine alten Motorradstiefel, die mit dem Geheimfach im Absatz, in dem ich meinen Tarak-Sin aufbewahrte. Im Traum spürte ich, wie das Gewicht und die Wärme meines Amuletts von meiner Ferse ins Bein ausstrahlten.
    Ich beobachtete River und Reyn bei der Reparatur von Rivers altem rotem Pick-up-Truck, der aussah, als stammte er aus den frühen Sechzigerjahren. Vielleicht war er wirklich so alt. River saß auf dem Fahrersitz und lehnte sich zum Fenster hinaus, um Reyns Anweisungen zu hören. Reyn beugte sich unter der offenen Haube über den Motor und hantierte souverän mit verschiedenen Werkzeugen rum. Ich sah, dass die beiden miteinander redeten, konnte sie aber nicht hören. Ich lehnte mich gegen den Zaun und spielte die Coole, während ich darauf wartete, dass sie mich entdeckten und ich sie abblitzen lassen konnte.
    Der Plan war, leichte Überraschung vorzutäuschen, wenn sie mich ansprachen, und dann ganz cool und desinteressiert zu wirken, wenn sie mich anflehten zurückzukommen. Ich würde ihnen sagen, dass ich

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