Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
bereit, die Blume zum Leuchten zu bringen, wenn es die Gelegenheit erforderte. Er wandte sich dem niedrigen Fensterbrett zu, auf das sie mehrere Taschenbücher gestellt hatte œ Lyrik und Sozialgeschichte, sah er. Keine Romanleserin, diese Autorin. »Haben Sie etwas gefunden?«
Er schrak schuldbewußt auf, als er ihre Stimme hinter sich in der Tür hörte.
»Nichts. Beide Türen waren offen. Nichts scheint umgefallen zu sein. Und die Fenster sind geschlossen.«
»Könnte es draußen gewesen sein?«
»Der Kamin, meinen Sie?« Er lächelte. »Ich glaube, wir hätten es schon gemerkt, wenn er durch das Dach gefallen wäre.«
»Was war es dann?« Ihre Stimme verriet Ärger. Vom Flur aus hatte sie gesehen, wie er ihre Sachen betrachtete. Seine Neugier erzeugte in ihr ein Gefühl von Verletzlichkeit und Wut.
»Vielleicht war es Marcus‘ Geist. Ich habe hier schon oft Geräusche gehört.« Als sie auf diese Bemerkung nicht reagierte, ging er zurück zur Treppe und schaute auf seine Uhr. »Ich muß langsam wieder nach Hause, Kate. Hier ist nichts. Nichts, weswegen man sich Sorgen machen müßte. Ich werfe beim Gehen noch einen Blick auf das Dach und bringe Ihnen ein paar neue Scheite rein. Es war wahrscheinlich draußen in den Bäumen œ ein abbrechender Ast oder sowas. Geräusche sind oft schwer zuzuordnen.« Er ging vor ihr die Treppe hinunter. »Wenn Sie sich fürchten, rufen Sie uns an. Dad oder ich kommen dann, um nachzusehen.«
»Das wird nicht nötig sein. Ich komme schon klar.«
Marcus.
Der Name, der ihr ungebeten in den Sinn gekommen war, ließ sie erschauern. Sie sah zu, wie Greg seine Füße in die Stiefel schob und nach seiner Jacke griff. Einerseits wollte sie, daß er ging. Er war vollkommen höflich gewesen, aber sie konnte seine Abneigung spüren. Andererseits hatte sie Angst. Der Gedanke ans Alleinsein gefiel ihr ganz und gar nicht. Aber sie mußte sich eben an das Alleinsein gewöhnen und an die komischen Geräusche, die das Landleben für sie bereithielt.
Als sollte ihre Entschlossenheit auf die Probe gestellt werden, erklang der durchdringende Schrei einer Füchsin, als sie die Haustür öffnete. Er drehte sich um und musterte ihr Gesicht. »Sie wissen, was das ist, nehme ich an.«
Der Scheißkerl! Er rechnete damit, daß sie Angst hatte. »Ja, ich weiß«, sagte sie. Es gelang ihr zu lächeln. »Ich habe die meiste Zeit meines Lebens auf dem Land gelebt, Greg. Nur weil ich eine Londoner Adresse habe œ oder hatte«, verbesserte sie sich, wobei ihr wieder einmal bewußt wurde, was es hieß, aus Jons Wohnung ausgezogen zu sein, »macht mich das noch nicht zur Städterin.«
Sie glaubte, er sei so anständig, ein wenig betreten dreinzuschauen, als er mit einer Verbeugung und einer spöttischen Berührung seiner Stirnlocke zum Land Rover ging. Sie hörte seine Bemerkung zum Abschied nicht, als er sich hinter das Lenkrad zog: »Scher dich zum Teufel, Lady Muck!«
Erst als sie die Rücklichter zwischen den Bäumen verschwinden sah, fiel ihr auf, daß er weder einen Blick auf das Dach geworfen hatte, bevor er fuhr, noch wie versprochen ein paar Reservescheite geholt hatte.
»Scheißkerl.« Dieses Mal sagte sie es laut. Es waren noch ein paar Scheite da, aber nach der Flamme, die er angefacht hatte, reichte es nicht mehr für die Nacht. Sie würde noch einmal hinaus in die Dunkelheit gehen müssen.
Die Taschenlampe lag noch auf der Ablage in der Küche, wo sie sie hingestellt hatte. Neben dem Dolch. Sie sah ihre Jacke an, die auf der Rückseite der Tür hing, und traf eine Entscheidung. Wenn das Feuer ausging, würde sie ein Bad nehmen œ der Boiler wurde ja elektrisch beheizt œ und dann zu Bett gehen. Nichts und niemand würde sie vor Tagesanbruch noch einmal aus dieser Tür hinausbringen.
Mit einem gewaltigen Gefühl der Erleichterung schob sie den Riegel vor und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie versicherte sich, daß die Luftklappe geschlossen war œ sorg dafür, daß das verdammte Ding so lange wie möglich an bleibt œ legte eine Elgar-Kassette ein œ die Enigma Variation œ laut œ und füllte ihr Glas dann noch einmal mit Whisky.
Nachdem sie noch ein paar Stunden an ihrem Buch gearbeitet hatte, erinnerte sie sich, während sie den Text ausdruckte, an die Silberpolitur, die sie in dem Schränkchen unter der Spüle verstaut hatte. Sie schaltete mit einem Seufzer der Erleichterung den Computer aus, legte die ausgedruckten Seiten ordentlich aufeinander und ging zur Schublade. Der Halsreif
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