Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
spaßig.« Sue grinste boshaft in der Dunkelheit. »Du hast immerhin solche Angst gehabt, daß du dir fast in die Hose gemacht hättest.«
»Habe ich nicht gehabt.«
»Hast du doch. Warum bist du sonst gekommen? Warum bist du den ganzen Weg durch den Wald gelaufen, statt zu Hause zu bleiben und darauf zu warten, daß deine Mutter aus Colchester zurückkommt. Du hattest einfach die Hosen voll.«
»Hatte ich nicht.«
»Hattest du doch. Gehst du morgen in die Schule?«
»Nein. Mir geht‘s immer noch nicht gut.«
»Du schwänzt, meinst du. Auch gut, aber ich gehe. Also sei jetzt still, Allie. Ich will endlich schlafen.« Sue griff in der Dunkelheit nach den Kopfhörern ihres Walkman und schaltete den kleinen Apparat unter ihrem Kissen an. Das laute Geschmetter der Sisters of Mercy schien nicht gerade ein ideales Schlaflied zu sein, doch innerhalb weniger Minuten war sie eingeschlafen.
Am anderen Ende des Zimmers lag Alison wach, starrte auf die geschlossenen Vorhänge und lauschte dem Regen. Unter dem fremden Federbett hatte sie wieder angefangen zu zittern.
XVIII
Auf dem Küchentisch lag ein Häufchen nasser, sandiger Erde. Kate starrte darauf. Der Halsreif war noch da, wo sie ihn liegengelassen hatte, neben dem Staubtuch und der Flasche mit der Silberpolitur. Sie berührte die Erde mit dem Finger. Sie war naß und kalt. Sie schnupperte. Der Geruch war immer noch da, aber nur noch ganz schwach œ der Geruch eines frisch umgegrabenen Gartens.
Oder eines frischen Grabes.
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht gut geschlafen. Im Zimmer war es kalt gewesen, und die Geräusche von Wind und Regen, die gegen die Fenster peitschten, hatten sie mehrere Male aus ihrem unruhigen, traumschweren Schlaf gerissen. Ihr Kopf war so schwer, daß sie nicht einmal klar denken konnte, als sie hinüber zur Spüle ging, den Kessel füllte und ihn aufsetzte. Nach einer Tasse Kaffee würde sich vielleicht eine Erklärung für die Schweinerei auf dem Tisch finden. Es mußte einen Grund dafür geben. Erde materialisierte sich nicht einfach so auf einem Küchentisch. Sie war vielleicht von der Balkendecke gefallen, hatte sich durch die hereinkriechende Feuchtigkeit und den Regen gelöst, oder sie war durch einen besonders wilden Windstoß hereingefegt worden, unter der Haustür durch, zum Kamin herunter.
Sie löffelte Nescafe in einen Becher, goß Wasser darauf und sah zu, wie sich der Wirbel aus braunen Körnchen, die sich an den blauen Ton klammerten, auflöste, während sie umrührte. Sie verbrühte sich ein wenig die Zunge, als sie kostete, aber das Koffein schoß wohltuend schnell in ihr Nervensystem. Sie stellte den Becher ab, nahm den Halsreif in die Hand und musterte ihn aufmerksam. Man sah keine Spur von ihren Bemühungen, ihn zu reinigen. Sogar die Kratzer, die sie mit ihren Nägeln gemacht hatte, waren verschwunden. Das Metall war grünlichschwarz und korrodiert wie zuvor. Nachdem sie es sorgfältig in das Staubtuch gewickelt hatte, trug sie es nach oben in das unbenutzte Zimmer.
Für einen ihrer Koffer hatte sie Schlüssel; in den schloß sie den Halsreif ein, schob ihn dann in die Ecke, machte die Tür hinter sich zu und ging wieder nach unten. Sie stellte die Politur beiseite und ging zur Spüle, um ein Haushaltstuch mit heißem Wasser zu befeuchten. Es dauerte nicht lange, die Erde aufzuwischen, das Tuch auszuwaschen und es wegzulegen. Dann zog sie Jacke und Stiefel an, stieß die Haustür auf und ging mit dem Karton für das Holz nach draußen.
Es war ein heller, sonniger Morgen. Hohe, weiße Wölkchen rasten von Westen her über den leuchtend blauen Himmel, und hinter dem Cottage glitzerte das Meer so stark, daß es blendete.
Der Regen war in die Hütte geweht worden, und viele der Scheite waren naß. Sie suchte weiter hinten, bis sie ein paar trockene fand, und trug sie ins Haus. Das machte sie dreimal, bis sich neben dem Ofen reichlich Brennholz befand. Mit dem beruhigenden Gefühl, mindestens für vierundzwanzig Stunden genügend Brennholz zu haben, blickte sie auf den Ofen. Es war sinnlos, ihn jetzt anzuzünden. Sie mußte noch etwas tun, bevor sie sich wieder an die Arbeit machte. Es hatte in ihrem Hinterkopf genagt, seit sie die Erde in der Küche weggewischt hatte.
Nachdem sie die Haustür hinter sich abgeschlossen hatte, stopfte sie den Schlüssel in ihre Jackentasche und zog ihre Handschuhe an. Dann machte sie sich über das kurze Gras hinter dem Cottage auf den Weg zum Strand. Ein Schwarm Seeschwalben
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