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Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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sich zu schnell bewegte. Ihre Hand fühlte sich trocken an, wie ein Zweig, und ihre Vitalität, dachte er bei sich, als er in ihre hellen, vogelartigen Augen lächelte, lag wahrscheinlich nur unwesentlich über Null. Sie war eine dieser Amerikanerinnen, die ihn mit Traurigkeit erfüllten œ die strikt Diät hielten, sich in ein Korsett zwängten, sich das Gesicht liften ließen, sich in edelste Seide hüllten, die den guten Sam ein paar Tausend Dollar gekostet haben mußte, und die sich bei all dem so unwohl zu fühlen schienen, daß es ihm für sie weh tat. Es machte ihn zutiefst traurig, daß sie trotz all ihrer Bemühungen œ vielleicht auch gerade deswegen œ um Jahre älter aussah als der hebe, zerknitterte, schlampige Sam mit seinem Bierbauch, seiner beginnenden Glatze und seinem breiten, unverwüstlichen Grinsen. Während Jon zusah, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihrem Mann eine Wange voller Rouge zum Kuß darbot œ ein Kuß, der gut fünf Zentimeter kalte Luft zwischen ihnen ließ -, fragte er sich, ob sie jemals die Schuhe von sich geschleudert und so richtig albern gewesen war. Er mußte an Kate denken. In Sorge wegen des Einbruchs hatte er nach dem letzten kurzen Telefonat dreimal versucht, sie von Boston aus anzurufen, aber nie hatte sie den Hörer abgenommen. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und rechnete. Sechs Uhr abends in Boston. Das hieß, es war zu Hause etwa elf Uhr. Er sah Sam an. »Könnte ich ein letztesmal versuchen, Kate anzurufen? Es ist jetzt elf da drüben. Ich bin sicher, daß sie mittlerweile zu Hause ist.«
    »Klar.« Sam strahlte. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Sie haben da Ihr eigenes Telefon.« Er nahm Jons Koffer und ging voraus, die breite Flucht offener Stufen hoch, die sich anmutig vom Wohnzimmer nach oben zu einem Flur schwang, der so breit war wie eine sechsspurige Autobahn. Jons Schlafzimmer war nicht so groß, wie er befürchtet hatte, aber es war luxuriöser, als er sich das jemals hätte träumen lassen. œ Bett, Sessel, Gardinen, Teppich in harmonisierenden, miteinander verschmelzenden Grüntönen, so daß er das Gefühl hatte, in einem bewaldeten Schoß spazierenzugehen. Er lächelte in sich hinein bei dieser Metapher. Grotesk. Haarsträubend. Wie das Zimmer. Wie sein Gastgeber. Und wunderbar einladend. Als Sam ihn verließ, setzte sich Jon auf das Bett und zog das Telefon zu sich heran.
    Zwanzig Minuten später hatte Jon sich geduscht und ein sauberes Hemd sowie einen Cashmerepullover angezogen, den Kate ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Er ging nach unten und ließ sich von seinem Gastgeber einen großen Whisky einschenken. Sein Anruf war ein Reinfall gewesen. Nach langem Hin und Her zwischen den Damen der Telefonfirma AT&T und der britischen Vermittlung hatten sie herausgefunden, daß die Leitung nach Redall Cottage tot war.

XXIV
    Die Priester waren in einer feierlichen Prozession zum heiligen Ort gegangen, einem Kreis ans Bäumen auf dem Hügel über dem Sumpf. Nion gehörte nicht zu den Höhergestellten œ er war jung -, aber wegen seiner königlichen Abstammung nahm er eine Sonderstellung ein, als sie, feierlich und in Roben gehüllt, auf die ihnen zugewiesenen Plätze im Kreis traten.
    Nion blickte um sich. Die Gesichter seiner Lehrer, seiner Freunde, seiner Mitpriester waren gestrafft, ihre Gedanken nach innen gerichtet, ihre Körper gebadet und ganz ihrem Zweck geweiht. Er verzog das Gesicht bei dem Versuch, den eigenen Geist auf Gebet und Meditation zu richten. Die Wahl des Opfers war eine Zeremonie, an der er erst einmal teilgenommen hatte. Damals war das heilige Brot über der Flamme gebacken und gebrochen worden, wie es die jahrhundertealte Tradition vorschrieb. Das verbrannte Stück, das Stück, das den Göttern gehörte, war von einem alten Druiden gewählt worden, der achtzig Sommer zählte oder mehr œ einem Mann, der sein Leben den Göttern geweiht hatte und zu allem bereit war, was diese bestimmten. Doch selbst er hatte, als er das verbrannte Stück herauszog, das seinen Tod besiegelte, einen kurzen Moment lang sein Entsetzen nicht verbergen können, bevor er demütig den Kopf neigte.
    Die Zeremonie lief nach strengen Regeln ab. Der Mann würde zunächst von seinen Mitpriestern geehrt und mit Gold gekrönt werden. In den Stunden, die ihm dann noch blieben, würde er seiner Familie Lebewohl sagen, seine Angelegenheiten in Ordnung bringen und sich zuletzt all seiner Gewänder entledigen und sich in Wasser baden, das

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