Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
das versuchte, je strenger er mit sich selber und seinem Stoff verfuhr, desto stärker wurden die zentrifugalen Kräfte.
Der Witiko ist der letzte Beweis dafür. Die innere Logik des Buches besteht darin, Naturgeschichte und Menschengeschichte in eins zu setzen, den Fluch der Vergänglichkeit durch die verweilende Wiederholung zu entkräften. Und sich zugleich in dieser Wiederholung der Haltekraft des Gegenwärtigen zu versichern. Das ewig Gegenwärtige ist die Natur.
Aber Stifter war alles andere als ein Ideologe. Deswegen haben jene späteren Ideologen, die gesellschaftliche Prozesse naturförmig verstehen und dirigieren wollten, mit Stifter nichts anfangen können. Sie hatten einen instrumentellen Begriff von Natur. Stifter hatte in Wahrheit überhaupt keinen Begriff von ihr. Er verstand durch unablässige Beobachtung mehr von ihr als jeder andere. Aber er hatte keinen Begriff von ihr im Sinne einer Theorie.
Er wusste, so behaupte ich, sehr oft nicht, was er tat. Er hatte einen historischen Roman schreiben wollen, aber der Witiko ist keiner. Insofern ist er gescheitert. Dennoch lohnt es sich, dieses Scheitern zu betrachten. Was kann man daraus lernen? Dass es nicht immer zum Ziel führt, konsequent zu sein. Dass das so genannte Gutgeschriebene oft nicht mehr ist als ein leerer Pleonasmus. Dass große Literatur und Perfektion selten zur Deckung kommen. Dass Vorbilder nichts taugen, wenn man sich von ihnen nicht freihalten kann.
Aufgabe
Lesen Sie Stifter. Beschreiben Sie eine Landschaft möglichst emotionslos und genau. Meiden Sie schmückende Adjektive und Wie-Vergleiche. Versuchen Sie, den Rhythmus der Landschaft mit dem Rhythmus der Sätze in Einklang zu bringen.
MICHAEL RUTSCHKY
Besuche in der Unterwelt
Sigmund Freud: Krankengeschichten [1895 ff.]
»Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen«, heißt es an einer berühmten Stelle bei Sigmund Freud, »und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepränges der Wissenschaftlichkeit entbehren.«
»Krankengeschichten« heißt hier einfach Falldarstellungen; man sagt auch Kasuistik. Jedenfalls handelt es sich um episches Material, Erzählstoff; keine Messergebnisse, Tabellen, Statistiken. Das liest sich – in dieser Frühzeit von Freuds Karriere – beispielsweise so:
»Als jüngste von drei Töchtern hatte sie, zärtlich an den Eltern hängend, ihre Jugend auf einem Gute in Ungarn verbracht. Die Gesundheit der Mutter war vielfach getrübt durch ein Augenleiden und auch durch nervöse Zustände. So kam es, daß sie sich besonders innig an den heiteren und lebenskundigen Vater anschloß, der zu sagen pflegte, diese Tochter ersetze ihm einen Sohn und einen Freund, mit dem er seine Gedanken austauschen könne.«
Man merkt, dass ihm das Erzählen Freude macht (dass er ein grandioser Schriftsteller war, ist allgemein anerkannt). Das epische Material entrollt sich um seiner selbst willen, so scheint es, das Augenleiden der Mutter, die Zuneigung des Vaters bleiben ohne Beweisabsicht – aber das trügt ein wenig. In Wahrheit bearbeitet Freud mit seinem Erzählen ein Problem. Ein Problem, das nicht objektiv vorgegeben, sondern von dem erzählt wird: »Im Herbst 1892 forderte ein befreundeter Kollege mich auf, eine junge Dame zu untersuchen, die seit länger als zwei Jahren an Schmerzen in den Beinen leide und schlecht gehe. Er fügte der Einladung bei, daß er den Fall für eine Hysterie halte.«
Freud interessierte sich – in wissenschaftlicher Haltung – für eine eingehendere und genauere Konzeption von Hysterie als seelischer Krankheit. Dem dient die Falldarstellung, das Erzählen; dies ist im Wesentlichen die Untersuchung, zu der ihn der befreundete Kollege auffordert. Am Ende müsste eine Aufklärung der Beinschmerzen von Fräulein Elisabeth von R. stehen sowie ein weiterer Beitrag zur Theorie der Hysterie.
Im Licht der späteren Entwicklungen steht diese Falldarstellung schlecht da – auch wenn Freud am Ende erzählen kann, er habe Fräulein Elisabeth von R. auf einem Hausball beim unbeschwerten Tanzen zugeschaut. Aber dies Misslingen lässt das Erzählen nicht abbrechen, ebensowenig die Theoriebildung. Was beim Detektivroman etwa, mit dem die Psychoanalyse oft in Verbindung gebracht worden ist, sofort einleuchtet: Der Erzähler schildert, wie er vor einer Tür steht, die sich nicht öffnen lassen will. Wie ein Problem ungelöst bleibt,
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