Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
sich dort ein reines Bild der Seele, eine adamitische Sprache finden ließe: Freud interpretiert Texte, die wie von einem anderen geschrieben sind. So etwas gilt ebenfalls für Fräulein Elisabeth von R., noch stärker für Dora: Der Erzähler ist restlos abhängig von Äußerungen und Formulierungen, die auf andere zurückgehen. Keineswegs kommt er aus dem Schweigen der Welt zur Sprache. Wobei das Konzept der Übertragung es nahelegt, dass der Erzähler den Formulierungen, denen er draußen in der Welt zu folgen hat, abzulesen versucht, wie sie sich auf ihn beziehen.
Aber das alles hört sich allmählich recht geheimnisvoll an. Womöglich weiß ich selber nur undeutlich, was ich sagen will. Und finde es nicht besser heraus, wenn ich hier von Freuds Prosa direkt eine Poetik abzuziehen versuche. (Versteht sich, dass solche Wendungen direkt dieser Poetik entstammen.)
»Ich habe einen Abend mit einigen älteren Angestellten verlebt, die tagsüber in mittleren kaufmännischen Berufen tätig sind. Der eine ist Bilanzbuchhalter, ein zweiter Kassenbeamter; gesetzte Männer, denen sicher für gewöhnlich außer dem Büroleben und dem engen Haushalt nichts anzumerken ist.«
Reportage nennt man gewöhnlich Siegfried Kracauers Text Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland , der 1930 als Buch herauskam, nachdem ihn die Frankfurter Zeitung in Fortsetzungen abgedruckt hatte. Zu diesem Zeitpunkt war Kracauer dabei, seine Angestelltenexistenz in der Frankfurter Redaktion aufzugeben und das Berliner Feuilletonbüro zu übernehmen, nicht ganz freiwillig. Zugleich schrieb er an einem der bedeutendsten Romane, die dem Leben der Angestellten gewidmet worden sind, Georg .
»Wir besuchten an jenem Abend einen Witwenball in der Gegend der Elsässer Straß, das echte Zille-Milieu, mit Blechmusik, Gelegenheitsarbeitern, billigen Witwen und Dirnen. Es wurde Bier getrunken, und die Leute verwandelten sich vor meinen Augen. Das waren nicht mehr gedrückte Büroangestellte, sondern richtige Elementargewalten, die aus dem Gehege brachen und sich auf ziemlich unbekümmerte Weise vergnügten. Sie erzählten eindeutige Geschichten, kramten Schwänke aus, strichen im Saal umher, sinnierten in ihre Gläser hinein und tobten dann wieder.«
Unverkennbar befindet sich der Erzähler außerhalb seines Milieus – unterhalb, genauer gesagt. Er ist befremdet, das ist der Sinn der Exkursion. Und er gewinnt aus dieser Befremdung einen eigenen Erzählstoff. Es fällt auf, dass seine eigene Anwesenheit, die Anwesenheit eines Erzählers aus einem ganz anderen Milieu, die Beobachteten nicht zu befremden scheint. Er muss sich getarnt haben. In der Sozialforschung nennt man diese Technik teilnehmende Beobachtung: die Teilnahme liefert die Tarnung. Der Erzähler unterstellt, dass die Szene, der er beiwohnt, ihren legitimen Sinn hat – die Gegenfigur wäre der Prediger, Missionar, Reformator, der auf einen Stuhl steigt, um den Feiernden ihre Sündhaftigkeit, ihr verfehltes Leben vor Augen zu halten und von ihnen Umkehr zu fordern.
»Der Tanzmeister trat an den Tisch, ein etwas vertrottelter Volkshumorist, der sich beim spendierten Bier unaufgefordert über seine Schicksale verbreitete. Er hatte seine Glanzzeit als Musikclown gehabt und ist dann offenbar nach und nach heruntergekommen.« Der Erzähler, wiewohl geradezu abgestoßen von der exhibitionistischen Schwatzhaftigkeit des Mannes (»unaufgefordert«) hat gleichwohl auf jede Abwehrgeste verzichtet und sich das von ihm Erzählte genau gemerkt – nun ja, jedenfalls so gemerkt, dass er die Geschichte auf eine Pointe bringen konnte: sozialer Abstieg.
»Besonders merkwürdig an der Zusammenkunft war aber dies: daß der Bilanzbuchhalter als ein alter Spießgeselle des Tanzmeisters wirkte, als eine durchaus unbürgerliche Existenz, die niemals Büroräume lange von innen gesehen hat. Warum ist er nicht zu höheren Positionen emporgedrungen?« Jetzt beginnt so etwas wie die Deutung, die interpretatorische Durchdringung des bislang nur exponierten Erzählstoffs:
»Vielleicht hat die Uninteressiertheit der Vagabundennatur seinen Anstieg verhindert, und nun ist es zu spät. Es gibt eine Menge phantastischer E.-T.-A.-Hoffmann-Figuren unter den Angestellten vorgerückteren Alters. Irgendwo sind sie stecken geblieben und erfüllen seitdem ununterbrochen banale Funktionen, die alles andere eher als unheimlich sind. Dennoch ist es, als seien diese Menschen in eine Aura des Grauens gehüllt. Sie strömt von den
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