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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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Erzähler gibt uns sparsame Hinweise auf das Äußere des Mannes und seines Pferdes:
    »Das Haupthaar konnte nicht angegeben werden; denn es war ganz und gar von einer ledernen Kappe bedeckt, welche wie ein Becken von sehr festem und dickem Stoffe gebildet, so daß ein ziemlich starker Schwerthieb kaum durchzudringen vermochte, dergestalt auf dem Kopfe saß, daß sie alles Haar in ihrem Innern faßte, und an beiden Ohren so gegen den Rücken mit einer Verlängerung hinabging, daß sie auch einen Hieb auf den Nacken unwirksam zu machen geeignet schien.«
    Der Erzähler gibt vor, die Haarfarbe seines Helden nicht zu kennen. Er beschreibt nur das, was in diesem konkreten Augenblick zu sehen ist. Wenig später macht Witiko Rast in einem Wirtshaus. Es wird ausführlich beschrieben, wie er sich der Pflege seines Pferdes widmet. Er breitet zum Beispiel seinen Mantel über das Pferd aus: »Als er diesen auseinander gefaltet hatte, sah man, daß er ein sehr einfaches kunstloses Stück Stoff von grober Wolle und grauer Farbe sei.« Die Beschaffenheit des Mantels kann also erst dann geschildert werden, wenn Witiko ihn auseinander faltet. Nun werden die übrigen Gäste beschrieben:
    »Seitwärts des Reiters, etwa zehn Schritte von ihm entfernt, saßen an einem Brettertische zwei andere Männer. Sie hatten sehr beschmutzte Lederkoller an. Die untere Bekleidung konnte man der sehr breiten Tischplatte willen nicht sehen.«
    Was ist das für ein Erzähler? Ein Chronist offenbar, der sine ira et studio das Evidente, Unbezweifelbare in den Mittelpunkt stellt. Wichtig ist die Perspektive. Wir kennen Stifter auch als Landschaftsmaler. Ein Maler muss die Sichtachsen beachten. Wenn er zwei Männer hinter einem Wirtshaustisch malen will, kann er nicht zugleich das zeigen, was durch den Tisch verborgen ist. In der Szene mit dem Mantel jedoch wird die Sichtachse mit einer Zeitachse verbunden. Witiko faltet den Mantel auseinander und breitet ihn über das Pferd, und indem er das tut, wird die Webart des Mantels sichtbar. Im Allgemeinen will uns der Maler ebenso wie der Schriftsteller ein farbenfrohes, detailgesättigtes Bild vor Augen führen. Das will Stifter offensichtlich nicht:
    »Das Pferd ging durch die Schlucht in langsamem Schritte. Als es über sie hinausgekommen war, ging es wohl schneller, aber immer nur im Tritte. Es ging einen langen Berg hinan, dann eben, dann einen Berg hinab, eine Lehne empor, eine Lehne hinunter, ein Wäldchen hinein, ein Wäldchen hinaus, bis es beinahe Mittag geworden war.«
    Wir erleben hier die Gleichförmigkeit einer Bewegung, den langsamen Ritt eines Mannes durch die Landschaft, wahrgenommen von einem fernen, unbeteiligten Beobachter. Man kann das langweilig finden, und das ist ja immer das vorherrschende Urteil über den Witiko gewesen. Aber für den geduldigen Leser entsteht durch die Reduktion der erzählerischen Mittel ein Leerraum, der sich mit Spannung füllt. Und diese Spannung entlädt sich in den dramatischen und emotionalen Szenen, an denen dieser ungewöhnliche Roman so reich ist. Sie wirken so stark, weil sie sich in äußerster Langsamkeit aufbauen, weil sie ihre Leuchtkraft auf einem fast monochromen Hintergrund entfalten.
    Nehmen wir die erste Begegnung Witikos mit Bertha, wobei wir erst am Ende der Szene die Namen der beiden erfahren und auch ihr Alter: Bertha ist sechzehn Jahre alt, Witiko zwanzig. Bis dahin heißen sie im Text immer nur »der Reiter« und »das Mädchen«. Der Reiter also kommt auf diese Waldlichtung und begegnet dem Mädchen, das auf seinem Kopf einen Kranz mit wilden roten Rosen trägt. Die Rose ist das Wappenzeichen jenes alten, fast erloschenen Geschlechts, dessen letzter Nachkomme Witiko ist. Dass Bertha die rote Waldrose im Haar trägt, ist Symbol für den Neuanfang, den Witiko mit seiner politischen Karriere setzen wird. Zugleich aber ist sie ein sublimes erotisches Zeichen. Denn die Begegnung der beiden ist das, was man gemeinhin Liebe auf den ersten Blick nennt. Der Höhepunkt der Szene geht so:
    »Nach einer Weile sagte sie: ›Trägst du immer diese häßliche Haube auf deinem Haupte?‹
    ›Nein, nur wenn ich sie brauche‹, sagte er, ›sie ist sehr leicht herab zu nehmen.‹ Bei diesen Worten nahm er die Lederhaube samt ihrem Anhange von seinem Haupte, und eine Fülle schöner blonder Haare rollte auf seinen Nacken herab. Die Haube legte er in das Gras.
    ›Ach, was Ihr für schöne Haare habt!‹ sagte das Mädchen.
    ›Und was du für rote Wangen

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