Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
Vom Netzwerk:
kann Thema der Erzählung werden.
    In einer späteren, unterdessen hochberühmten seiner Novellen liefert das Scheitern die eigentliche Pointe. Die 18jährige Dora, mit einem bunten Strauß von Krankheitssymptomen ausgestattet, bricht die Analyse nach kurzer Zeit ab – aus Gründen, die Freud verstehen und darlegen kann.
    Seit den Studien über Hysterie hat sich seine therapeutische Technik grundlegend gewandelt: »Damals ging die Arbeit von den Symptomen aus und setzte sich die Auflösung derselben der Reihe nach zum Ziel. Ich habe diese Technik seither aufgegeben, weil ich sie der feineren Struktur der Neurose völlig unangemessen fand. Ich lasse nun den Kranken selbst das Thema der täglichen Arbeit bestimmen und gehe also von der jeweiligen Oberfläche aus, welche das Unbewußte in ihm seiner Aufmerksamkeit entgegenbringt.«
    Die Recherche, wie sie in den Studien über Hysterie betrieben wurde, war insofern zu primitiv, als der Detektiv schon genau wusste, wonach er suchte, Gefühlskonflikte, unterdrückte Sexualimpulse, eingeklemmte Affekte. Dora hingegen überlässt sich so ungehemmt wie möglich ihrem eigenen Erzählen; Freud betätigt sich vor allem als Zuhörer. Zuweilen wird er Dora darlegen, wie er ihre Erzählung versteht, und die beiden werden zuschauen, was sie damit anfangen kann. Seine Deutungen und Konstruktionen versammelt Freud sodann in diesem Text, den wir als Bruchstück einer Hysterie-Analyse zu lesen bekommen.
    Wiewohl in jeder Hinsicht durch außerordentliche Kühnheit ausgezeichnet, stellt Freuds Novelle, nach der bekannten Unterscheidung, keinen Primärtext dar. Sie ist alles andere als aus dem Nichts, dem Schweigen geschöpft. Vielmehr liegt ihr, wie Freud ausführlich beschreibt, zugrunde, was Dora gesagt hat, und Freud zitiert sie geradezu dramatisch. Wiewohl ein eigenes Genre erfindend, muss die Dora-Geschichte als Sekundärliteratur gelten.
    Sie hat die Analyse nach ein paar Monaten abgebrochen; dem Detektiv wurde die Tür, nachdem man sie ihm bereitwillig geöffnet hatte, vor der Nase zugeschlagen. Aber Freud meint verstanden zu haben, warum. Der Fall Dora gab Gelegenheit zu einer weitreichenden Entdeckung, der sogenannten Übertragung:
    »Was sind Übertragungen? Es sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewußt gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes. Um es anders zu sagen: eine ganze Reihe früherer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig.«
    Freuds Novellen eignet unauflöslich ein autobiographisches Moment. Das »ich« des Erzählers, das schon in den Studien über Hysterie begegnet, ist substanziell – von Freuds Traumdeutung hat man gesagt, sie sei ein besonders radikales Experiment in Autobiographie: Es sind ja vor allem seine eigenen Träume, anhand deren Freud seine Lehre entwickelt. Mit der Entdeckung der Übertragung seitens Dora kommt aber noch eine weitere Variante, ja Komplikation des Autobiographischen ins Spiel. Es ist der Stoff, der dem Erzähler wechselnde, aber eindrückliche Bilder seiner selbst nahebringt, Bilder, die er erkennen muss, um ihnen nicht zu verfallen. Was macht Doras Erzählung mit mir? lernt sich Freud zu fragen.
    Eindrucksvoll zu beobachten, wie er in seinen strikter theoretischen Schriften ebenso einen erzählerischen Gestus kultiviert. Freud ist ein Theoretiker, der sich Zeit nimmt mit seinen Beobachtungen und Gedanken. Eine Stichprobe aus seinen meisterlichen, seinerzeit so unbeschreiblich skandalösen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie :
    »Überblicken wir nun nach diesen weder vollständig noch vollzählig mitgeteilten Proben und Andeutungen die Quellen der kindlichen Sexualerregung, so lassen sich folgende Allgemeinheiten ahnen oder erkennen: Es scheint auf die ausgiebigste Weise dafür gesorgt, daß der Prozeß der Sexualerregung – dessen Wesen uns freilich recht rätselhaft geworden ist – in Gang gebracht werde. Es sorgen dafür vor allem in mehr oder minder direkter Weise die Erregungen der sensiblen Oberflächen – Haut und Sinnesorgane -, am unmittelbarsten die Reizeinwirkungen auf gewisse als erogene Zonen zu bezeichnenden Stellen.«
    In seinem letzten großen Projekt, das Psychologie und Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Religionstheorie verbinden sollte und das vor lauter verschlossene

Weitere Kostenlose Bücher