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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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hätte Stifter diese Zweifel überspielt, indem er scheinbar den Rückzug ins Archaische antrat, in Wahrheit aber eine Literatur des fiktiv Dokumentarischen schreibt. Der Erzähler des Witiko tritt auf als umständlicher, um Genauigkeit bemühter Chronist, der Einfluss auf den Fortgang der Ereignisse weder nehmen kann noch will. Er tut so, als referiere er etwas, was an und für sich dokumentiert ist, unabhängig von seinem Erzählen. Und deswegen enthält er sich jeglicher Ausschmückung. Man wird auf diesen annähernd tausend Seiten keine einzige Metapher, keinen Wie-Vergleich finden. Es gibt auch keine kostbaren Formulierungen, gesuchten Wendungen. Der treffende Ausdruck, den uns Deutschlehrer und Wörterbücher empfehlen, wird nicht gesucht, im Gegenteil: Der Chronist entscheidet sich im Zweifel für die einfache, naheliegende Wendung. Und dadurch bekommt die Sprache des Romans eine ungeheure Intensität, eine selbstevidente Kraft. Die abgenützten Wörter wirken plötzlich frisch und wie neu. Die sprachliche Askese wirkt wohltuend und befreiend. Sie befreit von der maulfertigen Opulenz, von der ausgefuchsten Kunstfertigkeit, mit der uns heute viele Texte auf lästige Weise beglücken; und sie tut wohl, weil sie die Eskalation der Reize aufhebt, das Sensorium beruhigt wie ein langer Gang durch den Wald. Man kann bei Stifter die einfache und kräftige Bedeutung der Wörter wiederfinden.
    Das wahrhaft Irritierende am Witiko aber ist die Tatsache, dass es sich um einen historischen Roman handelt, der das Wesen des Historischen leugnet. Denn der historische Roman ist ja an die Zentralperspektive gebunden. Er muss an die Kompetenz des Subjekts glauben, sowohl an die des Erzählers wie an die der erzählten Figuren. Der historische Roman ist zweitens auf einen bestimmten Begriff von Zeit angewiesen. Er kann sich die Figur des Zeitpfeiles zu eigen machen, wonach Ursachen Wirkungen erzeugen, die dann unweigerlich auf ein vorläufig letztes Ergebnis zulaufen. Seltener ist der kreisförmige oder zyklische Zeitbegriff, der einem angeblich erkannten Gesetz zufolge die Ereignisse zum Anfang zurückbiegt. Witiko folgt dieser zweiten Figur, vor allem im dritten Band, wo sich die historische Sendung Witikos erfüllt – und damit eine alte Weissagung.
    Der dritte Band ist der schwächste Teil des Witiko , weil er den immanenten Widerspruch des Romans enthüllt. In dem Augenblick nämlich, in dem die Ereignisse an Tempo gewinnen und ins realhistorische Fahrwasser eintreten, müssen auch die handelnden Personen an Kontur und Individualität gewinnen. Dafür aber ist Stifters Sprache nicht gemacht. Sie widersetzt sich einer vorwärtseilenden Bewegung, sie liebt das Statuarische, das Verweilende.
    Im Witiko herrscht das Prinzip der Wiederholung. Es hat das Ziel, die herkömmliche Zeit, die gesellschaftliche Zeit, die historische Zeit stillzustellen. Stattdessen gilt ein Zeitbegriff, der sich aus der Natur ableitet. Stifter kann ihn dort am wirkungsvollsten entfalten, wo der äußere Gang der Ereignisse zur Ruhe kommt und die Entfaltung dessen beschrieben werden kann, was von allem Anfang an in einem höheren Sinn vorgesehen war – so etwa, wie sich die Autoren des Neuen Testaments an den zentralen Stellen immer wieder auf die Propheten berufen. Oder so, wie die aufblühende Rose enthüllt, was in ihrem Keim angelegt war. Stifter versucht, in der Natur eine höhere Ordnung zu erkennen, die nicht gefährdet ist durch Niedertracht und Zügellosigkeit, nicht bedroht durch den ewigen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung. In der Gleichgültigkeit der Natur besteht ihr wahrer Trost, in ihrem unangefochtenen, unanfechtbaren Fürsichsein. Die fürchterliche Gewalt der Vergänglichkeit, die Stifter in seiner Vorrede zur Mappe meines Urgroßvaters so eindrucksvoll beschrieben hat – in der Natur reduziert sie sich auf den Kreislauf und die Wiederkehr der Jahreszeiten. Das ist kein Trost, und Stifter behauptet das auch nicht. Was die Natur ihm und seinen Lesern aber beschert, ist nicht gering zu achten: Es ist das Sedativ der Verlangsamung, die meditative Kraft der Entschleunigung.
    Ich glaube nicht, dass das ein Konzept war. Meine Vermutung geht eher dahin, dass Stifter nicht wusste, was er tat. Er dachte konservativ, er war kein philosophischer Kopf. Etwas, von dem er nicht wusste, was es war, trieb ihn dazu an, sich diesem nicht Gewussten schreibend zu nähern. Er wollte zusammenhalten, was ihm wichtig und wertvoll schien. Aber je mehr er

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