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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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Türen führt, von denen Freud nur mutmaßen kann, was hinter ihnen zu finden wäre – in Der Mann Moses und die monotheistische Religion verlässt Freud sich restlos auf diesen erzählerischen Gestus, um voranzukommen.
    Die erste Frage, ob Moses womöglich ein Ägypter war, widersteht einer schlüssigen Beantwortung: »Wenn nicht mehr Sicherheit zu erreichen war, warum habe ich diese Untersuchung überhaupt zur Kenntnis der Öffentlichkeit gebracht? Ich bedauere es, daß auch meine Rechtfertigung nicht über Andeutungen hinausgehen kann.« Wenn man die ungeklärte Voraussetzung einmal dahingestellt sein lässt, ergeben sich aber außerordentlich fruchtbare Möglichkeiten der Schlussfolgerung über Ursprung und Wirkungsmacht der Religion, was eine weitere, eingehende Untersuchung notwendig macht: »Aber ich traue mir nicht mehr die Kraft zu, das zu leisten.« Dann schlägt die Weltgeschichte in den Text ein. Freud verlässt Wien, das an die Nazis gefallen ist: »Ich fand die freundlichste Aufnahme in dem schönen, freien, großherzigen England. Hier lebe ich nun, ein gern gesehener Gast, atme auf, daß jener Druck von mir genommen ist und daß ich wieder reden und schreiben – bald hätte ich gesagt: denken darf, wie ich will oder muß.« Denn das Schreiben von Mann Moses hatte in Österreich stark die Rücksichtnahme auf die katholische Kirche beeinträchtigt, die an der vornazistischen Diktatur intensiv beteiligt war.
    Aber wir wollen hier ja keine intensivere Freud-Philologie betreiben. Es soll darum gehen, was man von ihm für das Schreiben lernen kann, um seine Poetik gewissermaßen. In deren Zentrum steht gewiss, was er seine Novellen nennt, Texte mit einem durchgehend erzählerischen Gestus, die gleichzeitig Begriffe explizieren und Theorien entwickeln. Es ist schwierig, das Genre solcher Texte zu bestimmen. Sie Essay zu nennen, liegt nahe, wäre zugleich aber eine Verlegenheitslösung. Der starke erzählerische Anteil legt eine Klassifizierung als Reportage nahe – wogegen allerdings der hohe theoretische Anspruch spricht. Sie einfach zur Wissenschaftsprosa zu erklären, psychiatrische Falldarstellungen, würde den starken literarischen Appeal von Freuds Texten unterschlagen – der sich vermutlich in der Prosa André Bretons ausgewirkt hat, der seinen Surrealismus ja immer wieder von Freud herleitet. Bretons sogenannter Roman Nadja scheint direkt an Freuds Falldarstellungen geschult. Jean-Paul Sartre hat für Bretons Prosa die ironische Gattungsbezeichnung »Märtyrer-Essay« erfunden; Breton verwendet das »ich« von Freuds Prosa bei weitem pompöser, herablassend »begründete er die Überlegenheit seiner Theorien, und dann erzählte er plötzlich von sich selbst bis in die kindischsten Einzelheiten hinein, zeigte Fotos von den Restaurants, wo er gegessen hatte, von dem Laden, wo er seine Kohlen kaufte.«
    Aber vielleicht ist es ganz unfruchtbar, sich hier um die Gattungsbezeichnung zu bemühen, um Freuds Schreiben anschlussfähig für anderes Schreiben zu machen. Ein nach seinem Vorbild konstruierter Ich-Erzähler kann sich in ganz unterschiedlichen Genres herumtreiben, in der Rezension ebenso wie im ausgewachsenen Buch. Wichtig sind die Konstruktionsmerkmale dieses Erzählers.
    Sollte er zuallererst etwas über sich selbst, etwas Autobiographisches sagen wollen, so offeriert ihm Freud, folgt man der Traumdeutung, sogleich eine interessante Komplikation. Freud erforscht in seiner speziellen schweifenden Manier Äußerungen, die von ihm selbst stammen und angeblich auch von ihm selbst handeln, dabei aber gänzlich opak sind, seine Träume: »Ich bin wieder vor dem Bahnhofe, aber zu zweit mit einem älteren Herrn, erfinde einen Plan, um unerkannt zu bleiben, sehe diesen Plan aber auch schon ausgeführt. Denken und Erleben ist gleichsam eins. Er stellt sich blind, wenigstens auf einem Auge, und ich halte ihm ein männliches Uringlas vor (das wir in der Stadt kaufen mußten oder gekauft haben). Ich bin also ein Krankenpfleger und muß ihm das Glas geben, weil er blind ist.«
    Ich ist ein anderer – das ist hier keine erkenntniskritische Desillusionierung über ein Subjekt, das sich selbst für durchsichtig und seiner selbst mächtig gehalten hatte, es handelt sich um eine (literarische) Methodik: Wenn du dich selbst als Informanten einsetzen willst, dann mit mehrminder starkem Befremden.
    Es passt dazu, dass Freud die Selbstbefragung, die Reise ins Innere alles andere als freihändig unternimmt – weil

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