Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
überschnellendes
Herz
keine … Schatten.
In der Nahsicht auf die Textur der Zeilen, bei der das sinnentnehmende Lesen sich wandelt in ein wach mitgehendes, genaues Wahrnehmen der schriftlich dargebotenen, zugleich auch lautierbar mitvollziehbaren Artikulationen, kann das eigene probierende Wort-Laut-Erfinden anspringen. Es bewegt sich im Weichbild eines »automatischen« Formulierens, wobei das Bewußtsein unauffällig dabei ist, begleitend, nicht dirigierend. Was da zur Sprache kommt, mag sich hinterher herausstellen. Es spielt während des Formulierens keine Rolle. Diese Art zu schreiben ähnelt dem wachträumenden Hinübergleiten eines Lesenden vom scheinbar noch gegenwärtigen Inhalt ins somnambule, frei schwebende Sprachhaben. Die verbalen Hilfslinien, die im Text zu verfolgen sind, können beitragen, die eigene Wortfindung aus dem Karussell desselben sich immer wieder aus dem Hinterbewusstsein anbietenden, aufdrängenden Wörtervorrats hinausgleiten und zu nicht vorhersehbaren Bildungen, Erfindungen gelangen zu lassen. Sie können schriftlich oder akustisch verfasst und erfasst werden. Auch die orale Fassung wäre im Sinn von Arno Holz, der dem Laut- und Klangaspekt seiner Dichtung großes Gewicht beigemessen hat.
Die zitierte Passage aus der Hallelujawiese gibt einen Einblick in die spezifische Grammatikalität, die im Phantasus wirksam wurde. Das Satzskelett des umfangreichen Textes lautet schlicht: »Auf seiner (…) Hallelujawiese duldet (…) mein (…) Herz keine … Schatten.« Die Präposition »auf« erreicht erst nach 126 Zeilen ihr Beziehungswort »Hallelujawiese«. Das Prädikat folgt zwar unverzüglich, doch auch dieses wird mit Varianten bedacht und trifft erst nach weiteren 17 Zeilen auf sein Subjekt.
Es lohnt sich, das Textstück bis zum Wort »Hallelujawiese« immer wieder aufmerksam zu lesen und dabei Bedeutungshof und Lautung jedes einzelnen Wortes anzuschmecken und auszukosten. Mit dem zweiten Lesen beginnt sich die Hallelujawiese als die vieldimensionale, mit allen denkbaren Antagonismen bestückte Halluzinationsebene zu entfalten. Ihre irreale Realität legitimiert im Nachhinein das Wörterkaleidoskop, dessen springende Momente einerseits ihre Qualitäten antippen, andererseits jede Denk- und Vorstellbarkeit desavouieren. Es zeigt sich die Holzsche Leidenschaft für die attributiven Satzelemente, seine geradezu unersättliche Lust und Penibilität beim Aufrufen und Aufreihen adjektivischer und adverbialer Wortformen. Ihre aberwitzige Menge beherrscht weithin die Phantasus -Seiten und übertrifft bei weitem die der Substantiv- und Verbformen. Holz fasziniert ihre weiche grammatische Fungibilität. Sie teilen wie Nomina Inhaltliches mit, kommen jedoch ohne deren begriffliche Kernung aus. Im exzentrischen Wörterfluss erfindet Holz Wortkombinate wie »verlumpludert«, »märchenprunkflorisch«, »polychorisch«, »hirnmusmeschugge« als bedeutungslabile Unikate.
Aufgabe
Es lohnt sich der Versuch, die eigene Hallelujawiese mit solcher Methode zu erfinden. Dabei aufscheinende Wunschund Traumflächen spielen mit, werden jedoch unterwegs von den selbstbeweglichen Vokabeln in der Neugier auf Unerwartetes, Nichtvorstellbares konterkariert. Bei der eigenen gewohnten Lektüre oder mit lexikalischer Hilfe lässt sich Wortmaterial so überschüssig anreichern, dass das Spiel von Aussuchen und Kombinieren beginnen kann. Konstellation und Abfolge werden im Abhorchen und Austasten der Bedeutungsvalenzen, von Sympathie und Diskrepanz der Wörter, ihres phonetischen Substrats und der sich anbietenden rhythmischen Variablen entschieden. Die Mittelachse, die Holz für die angemessene Organisation der Versrhythmik gefunden und empfohlen hat, könnte sich als fungible Form für die Austarierung und Präzisierung der Wortsequenz erweisen.
JÜRGEN KEHRER
Das dunkle Reich des Wahnsinns
Friedrich Glauser: Matto regiert [1936]
»Jetzt ist schon wieder was passiert.« So beginnen fünf Bücher des österreichischen Krimiautors Wolf Haas. Wer wollte da nicht wissen, was passiert ist und warum. Wer den Mord, falls es denn einer war, begangen hat und ob er (oder sie) am Ende geschnappt wird. Ein klassischer Krimianfang also und zugleich das ganze Regelwerk: Am Anfang passiert etwas und am Ende wird es aufgeklärt, dazwischen darf man machen, was man will, solange man die Leser nicht langweilt.
Am Anfang von Friedrich Glausers Matto regiert wird der Berner Wachtmeister Studer frühmorgens aus dem Bett
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