Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
damit ist gar nichts gesagt. Wer schreibt, muss diese Veränderung in allen sinnlichen Einzelheiten, in ihrer verwirrenden Komplexität und Vieldeutigkeit, in ihrem erschütternden Reichtum vor sich sehen – »Seht ihr die Sache vor euch? Seht ihr irgend etwas?« Er muss sie im Erzählen wieder und wieder durchmachen, sie im Erfinden aufs Neue erfahren, nur dann hat diese Geschichte unter Umständen die Kraft der Verwandlung – nicht nur für den, der sie schreibt, sondern auch für den Leser.
P. S. Falls Sie Joseph Conrad in der New Yorker U-Bahn lesen sollten, achten Sie unbedingt auf die Stationsansagen, Sie fahren sonst immer zu weit.
FRANZ MON
Auf der Hallelujawiese
Arno Holz: Phantasus [1925]
In der deutschsprachigen Literatur des 19./20. Jahrhunderts liegt ein sperriges lyrisches Großgebilde in Gestalt des Phantasus von Arno Holz. Ihn hat man zwar noch kurz vor seinem Tod für nobelpreiswürdig gehalten. Doch die Reihe, in der ihn unmittelbar nach dem letzten Krieg Alfred Döblin, Freund aus den Berliner Tagen, wieder vorgestellt hat, war den Verschollenen und Vergessenen gewidmet.
Diese Zuordnung hat auch die große Werkausgabe von 1962/64 letztlich nicht aufheben können. Diese Ausgabe letzter Hand ist vergriffen, deren Phantasus -Fassung nurmehr in Bibliotheken oder Antiquariaten zu bekommen. Die in einem Reclambändchen noch zugängliche facsimilierte Urfassung des Phantasus von 1898 vermittelt zwar den Nukleus des Werkes, wirkt aber wie die Basisspitze einer darüber in die Höhe und Breite errichteten Pyramide.
Das Desinteresse, das Arno Holz erfahren hat, haben vor allem zwei Momente bewirkt. Literaturoffiziell werden seine Dichtungen als Zeugnisse eines originären Naturalismus geortet, der im Schatten von Expressionismus und Dadaismus jedoch verdämmert. Zum anderen ist die poetische Konzeption des Phantasus -Projekts in sich gespalten. Der innovativen poetologischen Kehre zur Dominanz der Rhythmik im Zeilenverlauf und der strukturierenden Mittelachse der Verse, die ein ruppiger Kehraus so gut wie aller traditionellen poetischen Mittel und Formen begleitet, steht eine, vermutlich von der Nietzscherezeption beflügelte, hypertrophe Rolle des eigenen Ich gegenüber. In der Einleitung zur ersten Ausgabe des erweiterten Phantasus von 1916 klingt das so:
»Allein schon aus dem Vorhandenen erhellt: als Grundstruktur die in denkbar weitestem Ausmaße abgesteckte »Autobiographie einer Seele«! Des »Schaffenden«, des »Dichtenden«, des »Künstlers«, der, wie namentlich aus dem großen, resümierenden Schlußstück hervorgeht, als der letzte, gesteigertste Menschheitstyp hingestellt wird, durch den, in irgend einer »Beziehung«, in irgend einem »Betracht«, mit gleicher Intensität, »alles« geht: Alle Qual, alle Angst, alle Not, alle Klage, alle Plage, alle Wonnen, alle Verzücktheiten, alle Jubel, alle Beglücktheiten, alle Seligkeiten, alle Ekstasen, alle Entrücktheiten! Nicht nur seine eigenen, sondern die der ganzen Menschheit! In allen Formen, unter allen »Verkleidungen«, durch alle Zonen, aus allen Zeiten!«
Aus dieser ins Menschheitliche schwingenden Ich-Mythisierung hat Holz zweifellos seine unermüdliche Arbeitskraft gewonnen. Sie hat sich ausgewirkt in der überdimensionalen Ausweitung und der manchmal bis ins Extrem getriebenen sprachlichen Verfeinerung der drei Gesamtausgaben von 1916, 1925 und 1962/64.
Es gehört zu den Rätseln des Phantasus , dass die krassen Zeitereignisse der Entstehungsjahre sich weder in den Stoffen noch im Vokabular spürbar niedergeschlagen haben, obwohl Holz unablässig neue, seltene Bezeichnungen und Ausdrücke aufgespürt hat. Seine Welt ist die Innenwelt mit ihren Halluzinationen, Phantasmen, Projektionen ins Exotische, Erotische, Machtlüsterne, auch ins verfügbare Vergangene, konterkariert immer wieder vom Bezug auf die Banalitäten des eigenen Alltags.
Dabei ist die Lyrik des Ur- Phantasus von 1898 ins Epische mutiert, ohne dass die Wortautonomie des Lyrischen verlorengegangen wäre.
Die divergenten Lesehorizonte, die sich in den seither verstrichenen über 70 Jahren mit ihren unvorstellbaren Ich-Geschichten, Verwerfungen, Verkehrungen und Verwüstungen, aber auch Erfindungen und Entscheidungen abgelöst haben, lassen die originäre Lesart, die Arno Holz im Sinn hatte, als obsolet erscheinen. Der heutige Leser des Phantasus ist entlastet von den quasi säkularreligiösen Wertungen und Aspekten, die Holz in das Werk eingesponnen hat. Wie
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