Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
geklingelt. Sein Vorgesetzter erzählt etwas von einem entflohenen Patienten und dem ebenso verschwundenen Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Randlingen, aber Studer denkt mehr daran, dass er noch »zwei Stunden Schlaf zugut« hat. Womit klar ist, dass Studer sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lässt. Der Wachtmeister ist ein besonnener Mann, um die fünfzig, verheiratet, bürgerlich also. Aber er könnte noch »wohlbestallter Kommissar bei der Stadtpolizei« sein, wenn nicht diese »Geschichte« passiert wäre, damals, als er seinen »ausgeprägten Gerechtigkeitssinn« nicht unterdrücken konnte und mit einem der Mächtigen im Staat, dem Oberst Caplaun, in Konflikt kam.
Mit wenigen Sätzen gelingt es Glauser, uns seinen Helden vertraut zu machen. Studer ist der ruhende Pol in der Handlung, er sucht nach logischen Erklärungen und sinnvollen Lösungen, während um ihn herum der Wahnsinn regiert. Denn die Irrenanstalt Randlingen ist Mattos Reich. »Sie kommen zum Unbewussten zu Besuch«, erklärt Dr. Laduner, der stellvertretende Direktor, der Studer nach Randlingen gefahren hat, »zum nackten Unbewussten, oder wie es mein Freund Schül poetischer ausdrückt: Sie werden eingeführt ins dunkle Reich, in welchem Matto regiert.«
Dr. Laduner ist Studers Führer durch dieses Reich, die beiden kennen sich von früher, als Laduner ein fortschrittlicher junger Psychiater war und die Jugendfürsorge in der Schweiz reformieren wollte. Jetzt begnügt er sich damit, die Situation der Patienten und der Pfleger zu verbessern, er hat neue Behandlungsmethoden eingeführt, die Räume freundlicher gestalten lassen und praktiziert Psychoanalyse – gegen den Widerstand des alten, senil gewordenen Direktors, der nun verschwunden ist. Studer und Laduner mögen sich, aber zugleich gibt es einen Bodensatz Misstrauen zwischen den beiden. Studer spürt, dass Laduner Angst hat und etwas verbirgt, erst am Ende des Romans, der sich nicht zuletzt um das Verhältnis dieser beiden Männer dreht, wird er herausfinden, was es ist.
Doch zunächst macht Studer seine Arbeit, er redet mit Patienten, Pflegern und dem Hausmeister, er findet Spuren und fast nebenbei auch den toten Direktor, der anscheinend mit tätiger Nachhilfe in einen Heizungsschacht gestürzt ist. Studer behält die Vermutung, dass der Direktor ermordet wurde, für sich, wie auch etliche andere »Misstöne«, die ihm bei seinen Ermittlungen auffallen. Aus diesen kleinen Geheimnissen, die im Laufe der Geschichte aufgeklärt werden, bezieht der Kriminalroman seine Spannung, während Glauser gleichzeitig ein Soziogramm der Anstalt entwirft. Man erfährt, wer mit wem kann, wer gegen wen intrigiert und wo unversöhnliche Fronten verlaufen – quer durch die Patienten-, Pfleger- und Ärzteschaft. Fast zwangsläufig ergeben sich daraus Verdächtige und ihre Motive: Da ist der entflohene Kindsmörder Pieterlen, der in die Pflegerin Irma Wasem verliebt war, ein »Meitschi«, auf das auch der Direktor ein Auge geworfen hatte. Da ist der Pfleger Gilgen, den der Direktor wegen angeblicher Diebstähle entlassen wollte. Was dem Oberpfleger Jutzeler nicht passte, der deswegen einen Streik anzetteln wollte und mit dem Direktor in der Mordnacht einen heftigen Streit hatte. Da ist ein mysteriöser Anrufer, mit dem der Direktor kurz vor seinem Tod telefonierte. Und da ist, nicht zuletzt, Dr. Laduner, der nach dem Tod des Direktors die Anstalt so führen kann, wie er es für richtig hält.
Friedrich Glauser spart in Matto regiert nicht mit den Ingredienzen des klassischen Kriminalromans, es gibt Verdächtigungen und überraschende Wendungen. Doch unterhalb des gekonnt gesponnenen Krimiplots lauert die eigentliche Geschichte. »Es wird ein Kriminalroman werden mit allen Regeln des (hoffentlich) guten Kriminalromans«, schreibt Glauser in einem Brief an seine Lektorin, »aber ich sehe keine andere Möglichkeit, dass die Leute Sachen schlucken, die sie sonst trocken nicht schlucken würden.«
Die Geschichte hinter der Geschichte handelt von Matto (italienisch für »verrückt«), jenem Matto, der mit »grünen gläsernen Nägeln« an den Fingern am Bett des Patienten Schül sitzt und manchmal auch auf dem Glockenturm. In Schül, dessen Gesicht »eine einzige Narbe« ist, hat Matto seinen Dichter gefunden: »Weit reicht seine Kraft und seine Herrlichkeit, und niemand entgeht ihm. Er winkt und wirft seine bunten Papiergirlanden, und der Krieg flattert auf wie ein blauer Adler, er schleudert einen
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