Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Heilanstalt Waldau bei Bern. Zuvor, in der Anstalt Münsingen, hatte er sich in die Pflegerin Berthe Bendel verliebt, die seine Liebe erwiderte.
Berthe Bendel blieb bei Friedrich Glauser, als er 1936 aus Waldau entlassen wurde. Im Sommer 1938 zog das Paar nach Nervi bei Genua. Am 6. Dezember 1938, einen Tag vor der geplanten Hochzeit, brach Glauser beim Abendessen zusammen. Zwei Tage später starb er, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Wer will, kann in Matto regiert zahlreiche Parallelen zu Glausers Leben entdecken: Die Heil- und Pflegeanstalt Randlingen im Roman ähnelt der realen Klinik Münsingen; wie der entflohene Patient Pieterlen hat sich Glauser in eine junge Pflegerin verliebt; der fortschrittliche Dr. Laduner entspricht dem Dr. Müller aus Münsingen, der Glauser behandelte; in Studers Widersacher Oberst Caplaun, der in Randlingen auftaucht und mit herrischem Gehabe verlangt, dass Dr. Laduner die Behandlung seines Sohnes beenden solle, kann man Glausers eigenen Vater erkennen, im schwachen, alkoholkranken Herbert Caplaun folglich ein Selbstporträt des Autors. Nur dem ruhigen, besonnenen Wachtmeister Studer, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, entspricht niemand in Glausers Leben. Möglicherweise ist er der Vater, den Glauser gerne gehabt hätte.
Dass Matto regiert trotzdem kein Schlüsselroman ist, liegt an der Distanz, mit der Glauser erzählt. Es geht ihm nicht um Biografisches, sondern um einen gesellschaftskritischen Kriminalroman. Die soziale Lage der Pfleger wird ebenso analysiert wie die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Psychotherapie in der Schweiz der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts möglich war. In einer Art Exkurs, der mehr als 20 Seiten des Romans einnimmt, hält Dr. Laduner Studer einen Vortrag über das Schweizer Rechtssystem, über die Diagnose Schizophrenie und die psychische und soziale Situation, in der Pieterlen, der entflohene Patient, zum Mörder seines eigenen Kindes werden musste . Die Ausführungen sind so logisch, dass dem braven Wachtmeister schwindelig wird: »Er hielt noch immer die Armlehnen seines Stuhles umklammert und dachte nur eines: Wann wird das Abrutschen aufhören?«
Glauser lässt auch nicht aus, dass Matto im nördlichen Nachbarland der Schweiz die Macht im Staat übernommen hatte. Bei einem anderen Gespräch zwischen Studer und Dr. Laduner läuft im Hintergrund das Radio: »Ein Militärmarsch verklang, und dann erfüllte eine fremde Stimme das Zimmer. Sie war eindringlich, aber von einer unangenehmen Eindringlichkeit. Sie sagte: Zweihunderttausend Männer und Frauen sind versammelt und jubeln mir zu. Zweihunderttausend Männer und Frauen haben sich eingefunden als Vertreter des ganzen Volkes, das hinter mir steht .«
»Der Mann, der soeben sprach, hat Glück gehabt«, kommentiert Dr. Laduner, nachdem er das Radio ausgeschaltet hat. »Wäre er zu Beginn seiner Laufbahn einmal psychiatrisch begutachtet worden, die Welt sähe vielleicht ein wenig anders aus. (…) In einem Vortrag habe ich einmal einen Satz gesagt, der mir übel genommen wurde: Gewisse sogenannte Revolutionen, habe ich gesagt, sind im Grunde nichts anderes als die Revanche von Psychopathen.«
Obwohl Glauser den Namen Hitler nicht erwähnt, waren solche Sätze auch in der Schweiz prekär, spätestens seit Beginn des Zweiten Weltkriegs. Als 1943 die zweite Auflage von Matto regiert erschien, handelte es sich um eine ›bereinigte‹ Fassung, getilgt waren alle aktuellen Bezüge zu Deutschland, vor allem Hitlers Radiorede. Erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Text wieder vollständig veröffentlicht.
Neben allen Botschaften, um die es Glauser sicherlich ging, darf nicht unterschlagen werden, dass Matto regiert ein sehr guter Kriminalroman ist, vielleicht der beste, der bis dahin in deutscher Sprache geschrieben wurde. Bei der Figur des Wachtmeisters Studer ließ sich Glauser von Georges Simenon und seinem Kommissar Maigret inspirieren. Wie Simenon ist Glauser ein Meister der Atmosphäre und der Figurenpsychologie. Mit wenigen Strichen gelingt es ihm, eine Figur lebendig werden zu lassen. Und lange vor Erfindung des Begriffs Regiokrimi erdet er sein Personal im regionalen Dialekt. Während Dr. Laduner, der scharfe Analytiker, in gestochenem Schriftdeutsch redet, spricht dessen Frau ›Bärndütsch‹ und sagt für Nordalpiner so unverständliche Sätze wie: »Herr Studer, weit-r cho z’Morge näh?«
Studer, der Fuchs, passt sich der
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