Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
roten Ball, und die Revolution lodert zum Himmel und platzt.«
Auch Studer, der besonnene, in sich ruhende Wachtmeister, kann sich der Atmosphäre der Anstalt nicht entziehen. Er schwankt zwischen dem Wunsch, die Untersuchung möge sich noch eine Weile hinziehen, damit er Mattos Bekanntschaft machen könne, und der Furcht vor der »riesigen Spinne, die ihre Fäden über das ganze umliegende Land gespannt hat«.
Die Anstalt Randlingen, Mattos Reich, ist eine Metapher. Der Wahnsinn, der in den Trakten der Patienten unverstellt zum Ausdruck kommt, ist die Spitze des Eisbergs einer verrückten, sich selbst zerfleischenden Menschheit. Das ist die Botschaft, die Glauser die Leser »schlucken« lassen will: »Warum soll man nicht einmal versuchen, eine Art Spiegelbild der Menschheit zu geben, in dem man eine geschlossene Anstalt zeigt, diesen Ameisenhaufen, in dem sich die menschlichen Ameisen mit Gift bespritzen, beißen, neidisch aufeinander sind, hin und wieder auch ganz anständig handeln.«
»Die Diskrepanz, die zwischen der realen Welt und unserem Reiche besteht«, warnt Dr. Laduner den Wachtmeister, als sie das Eingangstor der Anstalt durchschreiten, »wird Sie vielleicht am Anfang unsicher machen. Sie werden sich unbehaglich fühlen, wie jeder, der zuerst eine Irrenanstalt besucht. Aber dann wird sich das legen, und Sie werden keinen großen Unterschied mehr sehen zwischen einem schrulligen Schreiber Ihres Amtshauses und einem Wolle zupfenden Katatonen auf B.«
Friedrich Glauser kannte Mattos Reich aus eigener Anschauung, er hat viele Jahre in psychiatrischen Anstalten verbracht, freiwillig und unfreiwillig, als Patient und als Pfleger. 1896 in Wien geboren, kam Glauser nach dem frühen Tod der Mutter zu seinen Großeltern und zog dann mit dem strengen Vater und dessen neuer Frau durch halb Europa. Mit dreizehn riss er zum ersten Mal von zu Hause aus und war fortan auf der Flucht, vor dem Vater, vor sich selbst. Nach mehreren Schulverweisen und einem halbherzig begonnenen Studium stieß er 1916 zur Zürcher Dada-Szene. Er schrieb Gedichte, führte ein Künstlerleben und war das, was man heute einen Junkie nennen würde. Bereits als Schüler hatte er mit Äther und Chloroform experimentiert, später kamen Alkohol, Morphium und andere Opiate hinzu. Er lieh sich Geld, das er nicht zurückzahlen konnte, und blieb Mieten und Rechnungen schuldig. Der Teufelskreis aus Festnahmen, Arrest und Klinikaufenthalten begann. Am 7. Februar 1918, Glauser war gerade 22 Jahre alt geworden, wurde er auf Betreiben seines Vaters wegen »liederlichem und ausschweifendem Lebenswandel« entmündigt. Von da an bis zu seinem Tod stand er unter der Aufsicht eines gesetzlichen Vormunds.
Als »gescheiterte Existenz«, wie er selbst schreibt, ging Glauser zur französischen Fremdenlegion und verbrachte zwei Jahre in Nordafrika, eine Zeit, die er später im Legionärsroman Gourrama verarbeitete. Danach verdingte er sich als Tellerwäscher in Paris, als Bergarbeiter im belgischen Charleroi und als Gärtner. Schließlich kehrte er in die Schweizer Künstler- und Literatenszene zurück. Er fühlte sich zu künstlerisch ambitionierten Frauen hingezogen, doch die zumeist komplizierten Beziehungen brachten ihn regelmäßig an die Spritze und führten zu mehreren Selbstmordversuchen. Und immer wieder zu Entziehungskuren und Klinikaufenthalten. In der Anstalt Münsingen unterzog er sich bei dem jungen Arzt Dr. Müller einer Psychoanalyse, in der er die Beziehung zu seinem herzlosen Vater aufarbeitete.
Während der ganzen Zeit gab Glauser das Schreiben nicht auf. Doch abgesehen von einigen in Zeitungen veröffentlichten Erzählungen nahm die Öffentlichkeit davon keine Notiz. Trotzdem war ihm, auch wenn es ihm schlecht ergangen sei, »immer gewesen, als hätte ich etwas zu sagen, etwas was außer mir keiner imstande wäre auf diese Art zu sagen. Es ist gleichgültig, ob diese Überzeugung beweisbar ist oder nicht, ob sie in die Kategorie der Lebenslügen einzureihen – oder ob sie echt ist«.
Sein literarischer Durchbruch gelang ihm 1936 mit dem Kriminalroman Schlumpf Erwin Mord , später in Wachtmeister Studer umbenannt. Von da an schrieb Glauser wie ein Besessener. In wenigen Jahren entstanden fünf Wachtmeister-Studer-Romane und zahlreiche Erzählungen, begleitet von körperlichen und psychischen Zusammenbrüchen. Den dritten Wachtmeister-Studer-Roman Matto regiert verfasste Glauser von Januar bis Mai 1936 – während seiner Zeit in der
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