Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
ich wußte das. Er hatte sich von der Erde losgerissen. Er hatte die Welt in Stücke geschlagen. Er war allein, und ich dort vor ihm wußte nicht mehr, ob ich noch fest auf dem Boden stand oder durch die Luft segelte.«
Doch Kurtz ist zu krank, um sich der Delegation der Handelsgesellschaft zu widersetzen. Wie ein Gefangener wird er an Bord des Dampfschiffes festgesetzt, außer Reichweite der Eingeborenen, die ihm in grotesken Ritualen huldigen. Enteignet und entmachtet wartet er während der Rückfahrt im Ruderhaus auf seinen Tod: »Der braune Strom floß geschwind aus dem Herzen der Finsternis und trug uns doppelt so schnell, wie wir gekommen waren, meerwärts. Genauso ging es Kurtz. Sein Leben floß ebenfalls dahin, verebbte.«
Fast scheint der Alptraum vorüber, den Marlow wählte, als er sich auf die Spur dieses Mannes begab. Doch Kurtz spricht weiter, delirierend und beschwörend, mit einer Stimme, die kräftiger ist als sein Körper, er läßt ihn nicht los: »Eines Abends, als ich mit einer Kerze hereinkam, war ich überrascht, ihn ein wenig zittrig sagen zu hören: ›Ich liege hier im Finstern und warte auf den Tod.‹ Das Licht stand keinen Fuß weit von seinen Augen entfernt. Ich zwang mich zu murmeln: ›Ach, Unsinn!‹ und stand, wie gebannt, über ihn gebeugt. Nie habe ich ein solches Gesicht gesehen, nie eine solche Verwandlung, und ich hoffe, nie wieder so etwas sehen zu müssen. Oh, ich war nicht gerührt. Ich war fasziniert. Es war, als zerrisse ein Schleier. Ich sah auf diesem Elfenbeingesicht den Ausdruck düsteren Stolzes, unbarmherziger Gewalt, feigen Entsetzens – tiefer, hoffnungsloser Verzweiflung. Durchlebte er sein Leben noch einmal in allen Einzelheiten der Begierde, Versuchung und Hingabe während jenes höchsten, wissenden Augenblicks? Flüsternd schrie er einem Bild, einer Vision zu – zweimal schrie er, ein Schrei, der nicht mehr war als ein Hauch: ›Das Grauen! Das Grauen!‹«
Kurtz stirbt, während Marlow, trotz eines heftigen Fiebers, die Reise zurück aus der Finsternis überlebt. Doch es ist, als hätte er zu tief in den Abgrund geblickt. Er hat dem Tod ins Gesicht gesehen und findet daheim in Europa nicht wieder in das alltägliche Leben: »Mich schmerzte der Anblick der Leute, die durch die Straßen eilten, um einander ein wenig Geld abzuluchsen, um ihren elenden Fraß hinunterzuschlingen, ihr ungesundes Bier zu trinken, um ihre sinnlosen, törichten Träume zu träumen. Sie nahmen meine Gedanken über Gebühr in Anspruch. Sie waren Eindringlinge, deren Lebensweisheit mir wie eine ärgerliche Anmaßung vorkam, weil ich so sicher war, sie könnten unmöglich die Dinge wissen, die ich wußte. Ihr Betragen – das Betragen gewöhnlicher Menschen, die ihren Geschäften in dem Gefühl vollkommener Sicherheit nachgehen – war mir widerwärtig wie die Faxen eines Narren angesichts einer Gefahr, die er zu begreifen unfähig ist. Ich hatte keine große Lust, sie aufzuklären, doch ich hatte einige Mühe, mich zu beherrschen und ihnen nicht ins Gesicht zu lachen, das so voll alberner Wichtigtuerei war.«
Marlow ist am Ende seiner Reise nicht mehr derselbe. Wie weit der Weg, den er zurückgelegt hat, wirklich ist, kann man ermessen, wenn man sich den neugierigen Burschen in Erinnerung ruft, der anfangs die Landkarte im Schaufenster betrachtet hatte. Dazwischen liegen Welten. Diese Spanne von Erfahrung, diese radikale Selbstauflösung und Verwandlung will Marlow seinen Zuhörern vermitteln. Er will seinen dunkelsten Alptraum mit ihnen teilen, wohlwissend, dass dies unmöglich ist. Doch eben darin besteht die Utopie des Erzählens, die Marlow und sein Autor Joseph Conrad hochhalten – gegen ihre eigene Skepsis. Es ist der Glaube, die unbeirrbare Hoffnung, dass es gelingen kann, die Einsamkeit des Träumens zu durchbrechen und mit dem Leser auf eine fiktive Reise zu gehen, die wirklicher ist als die Wirklichkeit, selbst wenn ihre Ambition keine Geringere ist als vom Tod zu erzählen, von der ultimativen Grenzüberschreitung des Ichs in ein unentdecktes Land, »von des Bezirk kein Wanderer wiederkehrt«.
Aufgabe
Jede gute Erzählung, jeder gute Roman ist ein Medium von Erfahrung, ist die Geschichte einer Veränderung. Was hat Sie verändert? Welches Ereignis? Welche Begegnung? Welche Lektüre? Und warum? – Wir neigen dazu, viel zu abstrakt, zu chiffrenartig darauf zu antworten: der Tod eines nahen Angehörigen, die Geburt eines Kindes, Anfang und Ende einer großen Liebe. Doch
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