Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Schriftsteller sind Simenons Arbeitsgewohnheiten der reine Hohn. Er benötigte für die Rohfassung eines Romans in der Regel etwa elf Tage, die er sich vorab im Kalender reservierte. Wenn es länger ging, wurden es auch mal zwei Wochen. Nach einer kurzen Ruhephase von ein paar Tagen folgte noch eine Woche für die Überarbeitung. Fertig. Die Sage will es, dass Alfred Hitchcock eines Tages bei Simenon anrief und von dessen Frau erfuhr, dieser schreibe gerade und dürfe nicht gestört werden. »Das macht nichts«, soll Hitchcock erwidert haben, »ich bleibe solange am Apparat.«
Es waren natürlich kurze Romane, die auf diese Weise entstanden; die meisten zählen weniger als zweihundert Seiten, und abgesehen von ein, zwei umfangreicheren Lebenserinnerungen hat Simenon Zeit seines Lebens nie einen wirklich dicken Schmöker verfasst. Aber von seinen dünnen Romanen schrieb er viele – über vierhundert -, die ihm sein Publikum allesamt aus den Händen riss und die ihn zum vermutlich erfolgreichsten Unterhaltungsschriftsteller des 20. Jahrhunderts werden ließen. Und das Erstaunlichste daran: Die Dinger sind sogar richtig gut!
Einen Roman zu verfassen war für Simenon ein Ausbruch, ein Anfall, eine fiebrige Hetzjagd. An den betreffenden Tagen verbarrikadierte er sich an seinem Schreibtisch und tat, abgesehen von Schlaf und Nahrungsaufnahme und dergleichen, nichts anderes als zu schreiben. In späteren Jahren entwickelte er das Ritual, sich jedes Mal, bevor er sich in einen Roman stürzte, von seinem Arzt auf Herz und Nieren untersuchen zu lassen. Auch sonst pflegte er allerhand Rituale um sein Schreiben herum – so schrieb er zwar ab einem bestimmten Zeitpunkt mit der Maschine, behielt aber die Angewohnheit bei, vor Arbeitsbeginn erst einmal Dutzende von Bleistiften zu spitzen und bereitzulegen; er bestand darauf, jeden Tag das gleiche Hemd zu tragen, das, da er es im Lauf des Tages vollkommen durchschwitzte, über Nacht gewaschen und getrocknet werden und am nächsten Morgen wieder bereitliegen musste. Und dergleichen mehr.
Vor allem aber waren diese Schreibphasen dadurch gekennzeichnet, dass Simenon so vollkommen in der Welt seines Romans versank, dass er kaum ansprechbar war, wenn er zum Essen kam, seine Familie mit den Namen seiner Figuren anredete und je nachdem, was sich im Roman gerade abspielte, in den seltsamsten Stimmungen war. Er wurde praktisch zu seinen Figuren.
Von all dem ist oft die Rede, wenn das Thema auf Georges Simenon kommt, weit häufiger aber rühmt man, wie gesagt, die Atmosphäre seiner Texte. Es war auch das, was mir an ihm auffiel, als ich seinem Werk das erste Mal begegnete.
Ich erinnere mich noch gut an diesen Moment. Es war Anfang der Neunziger, ein Sommertag in Stuttgart. Ich war zu Fuß unterwegs in die Innenstadt, geriet vor einer Buchhandlung an eine Grabbelkiste mit antiquarischen Büchern und musste natürlich innehalten, um ihren Inhalt in Augenschein zu nehmen. Eines der Bücher war der Roman Die Fantome des Hutmachers von Georges Simenon, den ich ob des eigenartigen Titels herausnahm und anlas.
Dieser Roman beginnt mit der Schilderung eines trüben Monats, eines Monats, in dem es nicht aufhört zu regnen, alles durchweichend, Straßen, Kleider, die nicht mehr richtig trocken werden, die Menschen selbst gar. Ich las die ersten Seiten, dann klappte ich das Buch beinahe erschrocken zu und stellte es rasch zurück, weil ich – ich schwöre es! – einen Moment lang das Gefühl hatte, die Seiten fühlten sich nass an.
So war es um mich geschehen. Kurze Zeit später kaufte ich meinen ersten Simenon – Antoine und Julie -, und seither läuft zwischen ihm und mir eine seltsame Leseaffäre. Mit bizarrer Sorge, den Vorrat an ungelesenen Simenons zu erschöpfen, taste ich mich an jeden langsam und lange heran, lasse ihn nach dem Kauf immer noch eine Weile im Regal liegen, bis mir der richtige Zeitpunkt gekommen scheint. Meist ist es nur ein Abend, selten zwei. Dafür lese ich die meisten Simenons mehrmals; er ist einer der wenigen Autoren, bei denen mir gerade das überhaupt keine Mühe macht.
Einschränkend sei gesagt, dass ich seine Kommissar-Maigret-Krimis komplett ignoriere. Sie lassen mich kalt, wie mich Krimis überhaupt selten zu fesseln vermögen. Alles, was ich hier sage, bezieht sich auf die anderen Simenons, die »Nicht-Maigrets«. Diese wiederum haben, seit ich erwachsen bin, mit Abstand den größten Einfluss auf mein eigenes Schreiben gehabt.
Ich will für die Zwecke
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