Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
tot ist. Fakt ist, der letzte Satz steht im Konjunktiv. Es ist die Rede von jenem Augenblick, »in welchem es zweifellos das beste gewesen wäre, sich noch ein Stück weiter herauszulehnen und sich gehen zu lassen, plumps und Schluss«.
Cortázar selbst hat die Frage nach dem Sprung eindeutig beantwortet. In einem Interview mit Evelyn Picon Garfield 1973 sagt er über Horacio: »He doesn’t leap. No, no. I’m sure he doesn’t. (…) But there are critics who have said that the book ›ends finally with the suicide of the protagonist‹. Oliveira does not commit suicide.«
Lesart 2 ist da eindeutiger. Nach dem 56. Kapitel folgen noch acht weitere, die sich damit beschäftigen, dem armen Helden mit kalten Umschlägen auch gute Ratschläge zu erteilen.
Wollte man Rayuela in die Literaturgeschichte einordnen, so könnte man von einem Zwitterwesen sprechen. Zum einen trifft das zu, was Gero von Wilpert in seinem Sachwörterbuch der Literatur über den modernen Roman schreibt: Er richte seinen Blick »auf die einmalig geprägte Einzelpersönlichkeit oder eine Gruppe von Individuen mit ihren Sonderschicksalen in einer Welt, in der nach Verlust der alten Ordnungen und Geborgenheiten die Problematik, Zwiespältigkeit, Gefahr und die ständigen Entscheidungsfragen des Daseins an sie herantreten und die ewige Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit. Das in das Weltgeschehen eingebettete Schicksal spielt sich in ständig erneuter Auseinandersetzung mit den äußeren Formen und Mächten ab, ist ständige individuelle Reaktion auf die Welteindrücke und -einflüsse und damit ständige eigene Schicksalsgestaltung«. Andererseits kommt die zweite Lesart des Romans mit seiner Intertextualität und Diskontinuität in den Zeitläufen der Definition eines postmodernen Romans nahe. Hier wird zitiert, collagiert und persifliert und damit jede Empirie der Alltagskapitel unterlaufen. In Zeiten der Hypertextualität könnte man ihn als frühen Hypertextroman ohne Computer und Internet bezeichnen.
Während die fiktive Figur des Schriftstellers Morelli in der ersten Lesart eine Randfigur ist, die in Kapitel 22 bei einem Autounfall stirbt, beherrscht er in Lesart 2 die Figuren. Seine Romantheorien sind in die Erzählung eingeflochten. Die wichtigste ist: »Provozieren, sich einen Text zur Aufgabe machen, der schlampig ist, unverbunden, inkongruent, der bis ins letzte gegen die Kunst des Romans (obgleich nicht gegen den Roman) verstößt. Wie alle erwählten Geschöpfe des Abendlandes begnügt sich der Roman mit einer geschlossenen Ordnung. In entschlossener Opposition auch hier die Öffnung suchen.«
Es ist nicht so, dass die Lesart 1 nur die Fabel ausschmückt. Es gibt auch hier keine eindeutige Erzählperspektive, sie wechselt von Kapitel zu Kapitel, mal redet Horacio in der Ich-Form, mal gibt es einen auktorialen Erzähler oder wird aus einem Brief Margas an ihren Sohn Rocamadour zitiert. Im Kapitel 34 werden zwei Erzählebenen ineinander verschränkt – ein Auszug aus einem von Marga konsumierten Liebesroman mit einer Hasstirade Oliveiras gegen die Lesegewohnheiten seiner Geliebten: »Wieviele Stunden hast du das gelesen, wahrscheinlich überzeugt davon, dass das das Leben sei, und du hattest recht, es ist das Leben, deshalb mußte man ja damit Schluß machen.« Darin versteckt sich jene Theorie des Romans, die erst in Lesart 2, unter dem Diktat von Morelli, ausführlicher behandelt wird. Marga ist das, was Morelli in Kapitel 79 verabscheut, wenn Cortázar ihn schreiben lässt: »Es scheint, daß der traditionelle Roman die Suche dadurch zunichte macht, daß er den Leser auf sein Milieu beschränkt, das um so genauer definiert wird, je besser der Romanschreiber ist. Erzwungenes Stehenbleiben auf den verschiedenen Stufen des Dramatischen, Psychologischen, Tragischen, Satirischen oder Politischen. Stattdessen versuchen, einen Text zu schreiben, der den Leser nicht fesselt, ihn aber zwangsläufig dadurch zum Komplizen macht, daß man ihm unterm Deckmantel einer konventionellen Handlungsführung andere, mehr esoterische Richtungen suggeriert. Eine demotische Art des Schreibens für das Leser-Weibchen (das im übrigen nicht über die ersten Seiten hinauskommen wird, gänzlich verloren und schockiert, den Preis verfluchend, den es für das Buch bezahlt hat), mit einer vagen Kehrseite in hieratischer Schrift.« Das Leser-Weibchen. Leider seitdem in der Welt, gerne von Männern verbreitet, die aus irgendwelchen Gründen Angst vor Leserinnen
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