Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
fuhren schließlich mit einem großen Frachtschiff von Antwerpen aus durch den Atlantik, die Meerenge von Gibraltar und das halbe Mittelmeer bis nach Griechenland und weiter in die Türkei. Die ganze Kindheit und die halbe Jugend war ich auf diese Weise fast immer zu Fuß mit meinem Vater unterwegs, diese Zeit war meine eigentliche Schulzeit, der gegenüber alles, was ich in der Schule lernte, verblaßte. Seit Beginn unserer Unternehmungen machte ich täglich Notizen über ihren Verlauf, zunächst schrieb ich auf, was mir mein Vater diktierte, dann fügte ich eigene Beobachtungen hinzu, bis ich mit den Jahren immer selbständiger wurde und unser Reisetagebuch mit all seinen Aufzeichnungen, Skizzen und Materialien schließlich allein führte.
Die erste Idee, die ich vom Schreiben erhielt, war daher eine Idee von detailreicher und anschaulicher Prosa, wie sie meinem Vater als höchstes Ideal aller Aufzeichnungen vorschwebte. Um diesem Ideal nahe zu kommen, mußte man Bescheid wissen, man mußte die Dinge, über die man schrieb, genau beobachtet und immer wieder in Händen gehabt haben. Jedem Schreiben ging daher der Erwerb eines bestimmten Wissens voraus, ja das Schreiben war insgesamt nichts anderes als ein Erzählen davon, was man gesehen, beobachtet, getan und gelernt hatte. Abschweifungen, Ausschmückungen oder gar Erfindungen verwässerten die ideale Prosa nicht nur, sondern unterhöhlten und zersetzten sie. Deshalb galt es, so knapp, präzise und anschaulich wie möglich zu schreiben, denn nicht auf das ausufernde, gefährliche Phantasieren kam es an, sondern auf die genaue Wahrnehmung der Welt und die exakte Kenntnis all der Bezeichnungen, die der Mensch sich für die Vielfalt des Lebendigen ausgedacht hatte.
Um mein Berichten und Erzählen zu schulen und zu verbessern, versorgte mich mein Vater mit bestimmten Büchern. Die meisten von ihnen waren Sachbücher und sollten mir mit all ihrem Fachwissen und ihren Fachbegriffen ein bestimmtes Gebiet der Natur möglichst gründlich erschließen. Pflanzen und Tiere, Wälder, Berge und Flüsse – für alle Bereiche gab es solche Bücher, die eigens für Jugendliche geschrieben worden waren, um ihnen die Augen zu öffnen. Wandern mit offenen Augen – genau so hieß denn auch ein Lieblingsbuch meines Vaters, das alle Kriterien erfüllte, die ein gutes Buch in seinen Augen erfüllen mußte. Es war ein Buch fürs Gepäck und ein Buch zum Nachschlagen, es war ein Buch für die Weiterbildung und eines, mit dessen Hilfe man viele Spaziergänge noch einmal in der Erinnerung wiederholte. Frei erfundene Erzählungen oder Geschichten dagegen waren höchstens dann noch von einigem Wert, wenn sie ein präzises Thema hatten und dieses Thema ähnlich wie ein Sachbuch kenntnisreich und mit einer gewissen Distanz behandelten. Wie und wo Tiere in freier Wildbahn lebten, davon zum Beispiel ließ sich durchaus spannend erzählen, solange die Erzählung nicht in bloße Stimmungen oder in Gefühliges abglitt. Aber auch vom Fischen und Angeln oder von bestimmten Sportarten konnte man detailliert und spannend erzählen, wenn das in solche Texte eingehende Sachwissen nicht durch erzählerische Übertreibungen beinahe unkenntlich gemacht wurde. Erzählte ein Autor allzu dramatisch, allzu spannend oder allzu rührend, so war die Gefahr groß, daß er den eigentlichen Erzählstoff aus den Augen verlor und daß die Phantasie über die genaue Wahrnehmung triumphierte. Von Gefühlen oder Stimmungen von Menschen zu erzählen, war, wie mein Vater behauptete, schon schwer genug, am schwersten aber war es, die Darstellung solcher Gefühle und Stimmungen in ein ausgewogenes Verhältnis zum sachlicheren Weltwissen zu bringen.
In den Augen meines Vaters gab es nur einen einzigen Erzähler, der von den Stimmungen und Gefühlen der Menschen so genau erzählen konnte wie von der Natur, den Dingen und all den handwerklichen Kniffen, die sich der Mensch angeeignet hatte, um die Natur zu beherrschen. Als ich dreizehn Jahre alt war, machte mich mein Vater mit den Büchern dieses Erzählers bekannt. Statt der Natur-, Tier- und Reisebücher, die ich bisher in großer Zahl gelesen hatte, las ich nun Erzählungen, die im Heimatland des gelobten Erzählers stories genannt wurden. Stories waren Geschichten, die ein Erzähler so oder ähnlich erlebt hatte, stories waren aber auch Reportagen im Kleinen, denen ein längerer Aufenthalt am Ort des Geschehens vorausgegangen war. Der Meister des Story-Erzählens hieß
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