Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
frei von jedem Erfolgsdruck. Sagen wir also abgewandelt: »Try this first at home.«
Gehen wir noch eine Ebene höher und betrachten wir Simenons Werk allgemein (wobei ich nur für die Nicht-Maigrets sprechen kann und auch nur für einige davon), dann fällt auf, dass Simenons Hauptfiguren gemeinsam ist, dass sie in einer Art Delirium befangen sind. Häufig ist dieses Delirium durch Alkohol oder andere Drogen verursacht; auffallend viele von Simenons Helden sind Alkoholiker. Es können aber auch heftige Leidenschaften sein, die einen ähnlichen Zustand hervorrufen, oder intensive, über ein Leben lang aufgebaute und gehegte Illusionen. Fast immer sind Simenons Figuren in Überzeugungen verbohrt, von denen sie ahnen, dass sie nicht länger haltbar sind, um sich daraufhin nur um so verbissener daran zu klammern.
Vielleicht kann man besser allgemein von »Einschränkungen des Bewusstseins« sprechen, die Simenon erforscht. Und hier haben wir wieder den Zusammenhang zu seiner Arbeitsweise: Denn nichts anderes ist es, was er tat, wenn er sich an einen Roman machte. Er setzte eben alles daran, zu vergessen, dass er Simenon war, um stattdessen seine Romanfigur sein zu können. Mit anderen Worten, er schränkte sein Bewusstsein ein. Eine Übung in Versenkung, aus der ein Roman erwuchs, der wiederum die Einschränkungen erkundet, denen unser Gewahrsein unterliegen kann. Es ist diese radikale Reise in die Illusion, die das Atmosphärische heraufbeschwört.
Manchmal kommt es am Ende eines Romans zu einer Erkenntnis der eigenen Einschränkungen, oft aber auch nicht. Dann endet die Figur tragisch, und es bleibt dem Leser überlassen zu verstehen. Das Faszinierende daran ist, dass sich alle Romane Simenons ähneln, ohne zu langweilen: Jeder einzelne Roman ist auf seine Weise ein zeitloser Klassiker, und oft liest man das Entstehungsdatum am Ende mit Bestürzung, weil man kaum glauben mag, dass er schon so alt sein soll. Die Bücher leben davon, dass Simenon ein scharfer Beobachter der Menschen gewesen ist und in seiner subjektiven Erzählhaltung so radikal war, dass er zu dem vorstößt, was allgemeine menschliche Natur sein dürfte. Durch ihn sehen wir andere (und, weniger gern und weniger bewusst, uns selbst), und wie alle Lebewesen werden wir nie müde, unsere Artgenossen zu beobachten. Das ist es, was seine Werke überdauern lässt. Während eine originelle Idee nur einmal reizt und dann verbraucht ist, bleiben diese schlichten Erzählungen lebendig und eindrucksvoll und sind der schlagendste Beweis dafür, dass die Regel stimmt: Gute Geschichten entstehen aus den Figuren heraus, nicht umgekehrt.
Aufgabe
Viele Autoren tragen Notizbücher bei sich, um Überlegungen und Ideen festzuhalten, Landschaften zu beschreiben, durch die sie der Zug trägt, oder Menschen, die sie dabei beobachten. Ohne Zweifel eine nützliche Übung, aber noch nicht das Ende der Möglichkeiten – denn es ist immer noch der Autor, der sich in diesen Beschreibungen abbildet. Kann man einen Schritt weitergehen? Kann man, sagen wir, sich in einen der Menschen versetzen, die man beobachtet, und verstehen, wie dieser die Landschaft wahrnimmt, durch die der Zug fährt? Kann man auf dem Wege der Empathie einen Moment lang jener arbeitsame Vertreter mit dem Notebook-PC sein, der gar keinen Blick hat für das da draußen? Oder jene stämmige Frau mit dem schlafenden Kind auf dem Nebensitz, die vielleicht erschöpft, vielleicht gedankenverloren, vielleicht verträumt in die vorbeiziehenden Auen schaut? Kann man sehen, was sie sieht? Empfinden, was sie empfindet?
Beim Entwurf einer Szene wählt man für gewöhnlich eine Perspektivfigur. Doch wie nahe geht man dann tatsächlich an sie heran? Hält man nur die ›innere Kamera‹ auf sie gerichtet, aus zwei, drei Metern Abstand? Sitzt man auf ihrer Schulter, kriegt mit, was sie in ihren Bart murmelt und ob sich ihr Körper verkrampft? Oder schafft man es, in ihren Kopf, ihren Körper hineinzugehen, sich selbst – den Autor – zu vergessen und zu dieser Figur zu werden? Und wenn ja – wie verändert sich das, was man aus dieser Perspektive schreiben kann? Das ist nicht nur einen, das ist viele Versuche wert.
Gerade der strukturiert vorgehende, mit Entwürfen und Gliederungen arbeitende Autor sollte es einmal wagen und, heimlich vielleicht, einen Text beginnen, ohne mehr zu kennen als den Schauplatz und die Hauptfiguren samt ihrer Vorgeschichte. Sollte sich leiten lassen von dem, was in ihm aufsteigt an
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