Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
oder 2, je nachdem, welches Feld Sie mit Ihrem Stein treffen. Sollte der Stein über das Raster hinausschießen, ist die Lesart beendet. Kapitel, die nicht angeschnipst werden, spielen in der Lesart nicht mit. Sollte Ihr Stein ein zweites Mal in einem schon notierten Feld anlangen, zählt der Stoß nicht.
Sie können die Zeichnung auch umdrehen und mit dem HIMMEL beginnen und sich langsam bis zur HÖLLE zurückarbeiten.
Ordnen Sie nun den Text nach der Reihenfolge der Zahlenfelder und lesen Sie ihn laut vor. Vielleicht ist das Ergebnis Humbug, aber es kann auch sein, dass sich wunderbare neue Konstellationen ergeben.
HANNS-JOSEF ORTHEIL
Die Prosa meines Vaters
Zu Ernest Hemingways Erinnerungs- und Nachlaßband »Paris – ein Fest fürs Leben« [1964]
I.
Mein Elternhaus liegt auf der höchsten Erhebung eines Hügelkamms mitten in einem großen Waldgelände des nördlichen Westerwaldes. In diesem weiten, von Hecken und Zäunen eingerahmten Terrain habe ich die frühen Jahre meiner Kindheit verbracht. Alles, was ich in diesen ersten Kinderjahren zum Spielen brauchte, war dort vorhanden: eine Blockhütte, ein Baumhaus, hohe Eichen und Buchen mit dicken Stämmen zum Klettern, ein Eibenwäldchen als dichtes, selbst im Winter noch grünes Versteck, zwei Bohnenstangen als Pfosten eines Fußballtors, eine Schaukel, ein Teich mit Fröschen und Kröten, ganz zu schweigen von den vielen Tieren, den Vögeln, Eichhörnchen, Schlangen und Ameisen, den Hunden, Katzen, Mäusen und Bienen. Wenn ich aus dem Zimmer meines Fensters im ersten Stock schaute, sah ich auf der Wiese unterhalb unseres großen Grundstücks frühmorgens die Rehe, und wenn ich an Wintertagen mit dem Fernglas die weißen Felder betrachtete, hockten auf den kahlen Bäumen der Wegränder Falken, Habichte und Bussarde.
Außerhalb unseres großen Waldgrundstücks aber war die Wildnis. Die Wildnis bestand aus dunklen Wäldern mit dichtem Unterholz, aus schmalen, bei starkem Regen kaum begehbaren Feldwegen, aus weiten Wiesen, auf denen die Kuhherden monatelang grasten und aus Feldern, auf denen der Mais so groß wurde, dass er die Erwachsenen hoch überragte. In meinen ersten Jahren habe ich die Wildnis kaum betreten, sondern die meiste Zeit auf unserem Grundstück verbracht, ich habe mich in der Blockhütte und dem Baumhaus einrichten dürfen, ich habe Steine, Pflanzen und irgendwelche Kuriosa gesammelt, und ich habe beinahe täglich all die verschiedenen Tiere beobachtet, die auf unserem Grundstück oder in seiner unmittelbaren Umgebung erschienen.
Herausgerissen aus diesem Leben wurde ich durch meinen Vater. Die ersten längeren Wege, die ich mit ihm zu Fuß zurücklegte, führten von unserem Grundstück hinab in ein enges Flußtal, wo sich der elterliche Hof und die elterliche Gastwirtschaft meines Vaters befanden. Auf dem nicht mehr überschaubaren Gelände mit all seinen Scheunen, Ställen, Feldern und Wiesen war mein Vater mit seinen zehn Geschwistern aufgewachsen. Einige von ihnen hatten den Hof in ihrem ganzen Leben nie richtig verlassen, die anderen aber kamen zumindest für ein paar Tage oder Wochen im Jahr immer wieder dorthin zurück. Der Spaziergang von unserem Waldgrundstück zum elterlichen Hof meines Vaters dauerte beinahe eine Stunde, meist gingen wir lauter holprige Feldwege entlang, dann und wann machten wir aber auch halt und schauten uns genauer um. Ich glaube, es gab in der ganzen Umgebung nichts, was mein Vater nicht kannte und nicht genau benennen konnte, so wurden unsere langen Spaziergänge hinunter ins Tal und wieder zurück zu Lehrstunden in väterlicher Beobachtungskunst. Natürlich dozierte oder unterrichtete mein Vater nicht, es war eher so, dass er laut vor sich hin sprach, auf etwas aufmerksam machte, etwas benannte oder erklärte: Das ist, weißt Du, was das ist? … Hier gibt es, jetzt schau mal! … Und dort drüben …, siehst Du das auch? Fast mein ganzes Wissen von der Natur habe ich von meinem Vater gelernt, er zeigte mir, dass die große Wildnis nichts Langweiliges oder Totes war, und er nahm mir mit der Zeit auch die Angst davor, sie allein zu durchstreifen.
Von meinem achten Lebensjahr an machten mein Vater und ich in den Schulferien dann aber auch richtige und immer weitere Reisen. Wir gingen zu Fuß durchs Moseltal von Koblenz nach Trier, wir wanderten den Rhein entlang, von Basel bis zur Mündung ins Meer, wir umkreisten den Bodensee und machten uns auf den Weg nach Salzburg, Wien, Berlin oder Paris, und wir
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