Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Bildern, Gedanken und vor allem Gefühlen, wenn er sich in die Perspektivfigur versenkt. Man sollte sich überraschen lassen können. Das ist vielleicht der schwierigste Teil: diese Offenheit in sich zu finden und zu bewahren – von dem, was diese Figur dann wollen, sagen, tun mag.
Und man sollte den Mut aufbringen, ihr zu folgen, trotz der Unsicherheit, ob da am Ende ein Schluss oder gar ein brauchbarer Text herauskommen wird. Vielleicht erlebt man Überraschungen. Bestimmt lernt man dazu.
ANNETT GRÖSCHNER
Schreiben. Spielen. Springen
Julio Cortázar: Rayuela. Himmel und Hölle [1963]
Ich habe eine Lieblingsgeschichte von Julio Cortázar, Südliche Autobahn , an die mich öfter erinnere. Nämlich genau dann, wenn ich wieder einmal in einem Stau stehe, aus dem es kein Entrinnen gibt, weil die letzte freie Ausfahrt eben verpasst ist. Ich weiß nicht, wo ich bin, um mich herum nur Autos, Asphalt und ein Saum von Büschen oder Feldern, hinter denen – außer ein wenig Horizont vielleicht – nichts ist. Ein zwangsweises Verharren im Niemandsland, in dem sich die Zeit zäh hinzuziehen scheint und jede Durchsage des Verkehrsfunks Hoffnung verheißt, die meist trügerisch ist. Irgendwann löst sich der Stau auf und keiner weiß, warum es ihn überhaupt gegeben hat.
In Südliche Autobahn verlängert sich die Dauer in Richtung Unendlichkeit. Irgendwann richten sich die Wochenendausflügler in ihrem Wartestand ein, zwei sterben, eine wird schwanger, Kinder wachsen, aus Sommer wird Herbst, Winter und Frühling. Eines Tages geht es plötzlich weiter, ohne dass die Autokolonne noch etwas aufhält.
Dass der Argentinier Cortázar seine Geschichte auf der Pariser Peripherique spielen lässt, verwundert nicht, wenn man weiß, dass er mit 37 Jahren, 1951, aus Opposition zum Regime Juan Peróns nach Paris emigrierte, dort lange Zeit für die UNESCO als literarischer Übersetzer arbeitete, weil er von seiner schriftstellerischen Tätigkeit nicht leben konnte, und 1981 die französische Staatsbürgerschaft verliehen bekam, drei Jahre vor seinem Tod.
Auch im Roman Rayuela. Himmel und Hölle , um den es im Folgenden geht, ist Paris über weite Strecken der Schauplatz des Geschehens. Ja, das Labyrinth der Stadt mit ihren Straßen und Metrolinien, verwinkelten Treppenhäusern und Parks, in denen widerspenstige Regenschirme entsorgt werden, ermöglicht erst das Grundmuster des Romans. Ein unaufmerksamer Moment, eine unachtsame Kopfbewegung oder ein falscher Schritt und schon gibt es kein Entrinnen aus dem Labyrinth. Immer wieder findet sich leitmotivisch auf dem Straßenpflaster das Hüpfspiel Himmel und Hölle , das es überall auf der Welt in den verschiedensten Varianten gibt. Immer aber führt ein Schritt über die Linie beim Hüpfen auf einem Bein oder ein zu starkes Anstoßen des Steins zur Unterbrechung des eigenen Spiels. Der andere ist dran. Kann sein, dass er gewinnt.
Das Bemerkenswerte an Rayuela ist, dass man das Buch auf mindestens zwei Arten lesen kann – und soll. Denn am Anfang des Buches steht ein Wegweiser: »Auf seine Weise ist dieses Buch viele Bücher. Der Leser ist eingeladen, eine der beiden Möglichkeiten für sich auszuwählen.« Das Buch hat 155 Kapitel. Für die Lesart 1 genügt es, bis zum Kapitel 56 zu lesen. Die Lektüre der weiteren 99 Kapitel ist freiwillig (»Kapitel, die man getrost beiseite lassen kann«), aber wenig sinnvoll, es ist eine Ansammlung von Appendixen oder wie man heute sagen würde, ausgelagerten Dateien, die jeder Romanschriftsteller kennt – Kapitel, die am Ende doch nicht so recht passen wollen und beiseite gelegt werden, um sie vielleicht später in anderen Büchern als Schlüsselstelle wiederauferstehen zu lassen. Selbiges geschah mit dem Kapitel 62 von Rayuela , das 1968 zum Roman umgearbeitet, als (dt.) 62 / Modellbaukasten erschien und formal eine Fortführung von Rayuela ist. Dort war es noch ein von dem fiktiven Schriftsteller Morelli geplantes Buch, das über lose Aufzeichnungen nicht hinauskam. In 62 / Modellbaukasten wird der Leser eingeladen, »seine persönliche Montage der Elemente der Erzählung« zu schaffen. Der Roman spielt in einer Welt, die ohne Logik und Psychologie auskommt.
Bei Rayuela sollte man es auf jeden Fall auch mit Lesart 2 versuchen – es ist ein Labyrinthroman. Wie Ariadne bekommt der Leser einen Faden in die Hand, der ihn durch das Gewirr von Räumen begleitet und wieder zurückführt ins Freie – am anderen Ende des Romans, wenn es gut
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