Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
geht. Lesart 2 fängt mit dem 73. Kapitel an, dann folgen das erste und zweite, auf das 116. das dritte, das vom 84. verfolgt wird usw. Mit dieser Handlungsanleitung gelingt es, alle 636 Seiten zu lesen, aber kreuz und quer und ohne dass man weiß, was noch vor einem liegt, denn die Kapitel sind alle unterschiedlich lang, manche bestehen nur aus einem Satz.
In der ersten Lesart wird der Fortgang der Handlung durch nichts unterbrochen, in der zweiten Lesart verzögern Einschübe jeglicher Couleur von naturwissenschaftlichen, philosophischen, literarischen oder essayistischen Abhandlungen über Traktate, Zeitungsmeldungen, Anekdoten und Anmerkungen den Ablauf. Jedes schon einmal in der ersten Lesart gelesene Kapitel entfaltet sich in der zweiten Lesart noch einmal völlig anders.
Die Fabel ist schnell erzählt und trifft doch im Wesentlichen nur für die erste Lesart des Romans zu: Ein Mate trinkender Argentinier mittleren Alters – Horacio Oliveira – lebt im Paris der fünfziger Jahre. Es ist unklar, womit er seinen Lebensunterhalt verdient, wie Poes Mann der Menge streift er scheinbar ziellos durch die Stadt, »Wochen und Monate (die Tage zu zählen war schon schwieriger für Oliveira, der glücklich, ergo ohne Zukunft war)«. Dabei trifft er auf Gleichgesinnte aus aller Welt, Intellektuelle wie er – Schriftsteller, Künstler, Jazzliebhaber – Bohemiens allesamt, mit denen er den Club der Schlange bildet. (Die Anlehnung an Poe verwundert nicht, Cortázar hat ihn für die UNESCO ins Spanische übersetzt.) »Schon damals war mir klar geworden, daß Suchen meine Bestimmung war, Emblem jener, die nachts fortgehen ohne festes Ziel, Daseinsberechtigung der Matadore der Kompaßnadel«, schreibt Horacio. Abends trifft sich der Club in einer der billigen Absteigen, in denen seine Mitglieder untergekommen sind oder auf einem unbebauten Gelände jenseits des Boulevard Jourdan, wo sie sich mit einem sehenden Blinden unterhalten. Am liebsten jedoch hören sie Jazz oder philosophieren, machen beides gleichzeitig oder philosophieren über Jazz, über Bix und Eddie Lang, Big Bill Broonzy, Ma Rainey oder Fats Waller. Ihre Bewunderung gehört den Erneuerern dieser Musik, wie Stan Getz, ihre Verachtung dem ersten globalisierten Trompeter Louis Armstrong, der es zu ungeheurer Popularität gebracht hat, was für sie an Verrat an der Musik grenzt.
Unter den Mitgliedern ist auch Marga aus Uruguay, die eigentlich Lucia heißt und einen kleinen Sohn hat, dessen Name Rocamadour auch nur ausgedacht ist. »Wir waren nicht verliebt«, sagt Horacio im 2. Kapitel erster Lesart, »wir praktizierten die Liebe mit einer virtuosen und kritischen Leidenschaftslosigkeit, aber danach fielen wir in ein schreckliches Schweigen, und der Schaum auf den Biergläsern wurde Putzwolle, wurde schal und zog sich zusammen, während wir uns ansahen und fühlten, daß dies die Zeit war.« Marga ist eine Erfinderin von Geschichten und die große Naive des Romans. »Die Vernunftwidrigkeit der Marga faszinierte Oliveira, ihre gelassene Missachtung elementarster Berechnungen.« Sie liest billige Romane und ist ungebildet, singt gerne Lieder von Hugo Wolff wickelt durchnässte Füße in eine Doppelseite des Figaro Littéraire und zieht durch das Quartier Latin, um Schaufenster anzuschauen, alles Dinge, die Oliveira verachtet.
Horacio Oliveira ist zynisch und zerrissen, andererseits sagt man über ihn: »Hier schmerzt ihn alles, sogar die Aspirintabletten tun ihm weh.« Er ist auf der Suche nach dem »kibbutz of desire«. Als Marga nach dem plötzlichen Tod ihres Kindes (inmitten einer Diskussion des Clubs über Realität) verschwindet und der Club der Schlange zerfällt, bleibt Horacio nichts als die Ziellosigkeit, die ihn immer tiefer in das Pariser Labyrinth verstrickt und dazu führt, dass er nach dem Versuch, mit einer Clocharde betrunken in aller Öffentlichkeit einen Geschlechtsakt zu vollenden, nach Buenos Aires ausgewiesen wird. Dort trifft er seinen alten Freund Traveler wieder, der nie verreist und mit seiner Frau Talita in einem Zirkus arbeitet. Horacio imaginiert die Marga in Talita, die das Spiel durchschaut. Am Ende treffen sich die drei Freunde in einer Irrenanstalt wieder – als Angestellte und Wärter, denn der Zirkusbesitzer hat sein Etablissement gegen eine Nervenklinik getauscht.
Bis heute streiten sich die Liebhaber von Cortázars Literatur, ob Horacio am Ende aus dem Fenster des Irrenhauses mitten in das Himmel-und-Hölle-Spiel fällt und
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