Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
leeren Kasten fielen, hallte es darin. Aber der Briefkasten war so klein, daß es gar nicht hallen konnte. Außerdem war Bloch sofort weitergegangen.« Wieder das gleiche Vexieren: Hallt es tatsächlich (wie ich als Leser zunächst annehme)? Oder hallt es nicht (also nur in Blochs Vorstellung)? Allein die Aufmerksamkeit, die dem möglichen Hallen des Briefkastens zukommt, demonstriert Blochs paranoides Verhältnis zur Welt. Das in dieser Weise erfahrbar gemachte, permanente Scheitern an der Arbeit, die Welt zu verstehen, ist ein wesentlicher Teil dessen, was den Sog des Textes erzeugt. Dabei verweilt der Text nie bei diesen Momenten eines sich andeutenden Wahnsinns, seine Mittel bleiben immer sparsam, das Bild schnellt sofort zurück in ein äußerliches Erzählen. Der Text bleibt nie bei einem einzelnen Gegenstand oder einer einzelnen Situation haften, sondern schreitet stets mit hohem Tempo voran. Als Rastloser zittert Bloch immer weiter durch seine haltlos gewordene Welt.
Die Erzählung arbeitet dabei mit zahlreichen Zeitsprüngen; gerade noch war es Nachmittag, plötzlich ist es Abend, Bloch säuft, prügelt sich, geht schlafen – all das geschieht auf einer Druckseite. In dem chronologischen, scheinbar lückenlosen Bericht aus Blochs Leben gibt es zahlreiche solcher Sprünge und Lücken: »Die Weintraubenhülsen, die er am Tag zuvor ausgespuckt hatte, lagen immer noch auf dem Gehsteig. Als Bloch den Geldschein auf den Kassierteller legte, verfing der Schein sich beim Drehen; Bloch hatte Anlaß etwas zu sagen. Die Kassiererin antwortete. Er sagte wieder etwas. Weil das ungewöhnlich war, schaute die Kassiererin ihn an. Daraus ergab sich ein Anlaß weiterzureden. Wieder im Kino«. Erzählt wird also keinesfalls zeitdeckend; aber auch nur selten raffend. Vielmehr werden jeweils die Einzelmomente herausgegriffen, in denen die Welttextur (in den Augen Blochs) einen Webfehler aufweist, in denen etwas sonderbar erscheint. Vor jedem Satz könnte der Vor-Satz »Merkwürdig:« stehen: »Merkwürdig: Die Weintraubenhülsen, die er am Tag zuvor ausgespuckt hatte, lagen immer noch auf dem Gehsteig. Merkwürdig: Als Bloch den Geldschein auf den Kassierteller legte« – und so fort. Hieran kann ich zwei Momente erkennen, die wesentlich zur Spannung des Textes beitragen: Zum einen ist es die Geschwindigkeit, mit der erzählt wird; alles Überschüssige, Irrelevante wird übersprungen, ich werde mit hohem Tempo durch das Geschehen gezogen. Zum anderen ist es die Konzentration auf die Irritationen; damit wird jedes erzählte Detail aufgeladen, selbst beiläufige alltägliche Beobachtungen (wie die noch vom Vortag daliegenden Weintraubenhülsen) bekommen in Blochs Wahrnehmung (und somit auch für mich als Leser) eine Brisanz; und es ist die widerborstige Welt in all ihren Erscheinungen (den Menschen und den Objekten) die zu Blochs Gegenspieler, zu seinem Antagonisten wird, mit der er sich in ständiger Auseinandersetzung befindet.
Die Menschen in Blochs Umgebung sind keine klassischen Figuren, die zu Bloch in einem figurenpsychologischen Verhältnis stünden. Vielmehr sind sie strukturell dem Briefkasten (aus dem Beispiel oben) verwandt; die Menschen, denen Bloch begegnet, sind gewissermaßen Super-Briefkästen: besonders schwer zu verwindende Irritationsfaktoren, besonders anstrengende Ausprägungen der widerständigen, zudringlichen Welt. Bloch ist immer wieder gezwungen, mit diesen Mitmenschen zu kommunizieren; mitunter zeigt er sogar das Bedürfnis dazu (beispielsweise versucht er wiederholt, seine frühere Frau anzurufen). Diese (im Vergleich zu der beispielsweise recht einfachen Handhabung eines Briefkastens) komplizierten Interaktionen führen zu besonders anstrengenden Missverständnissen: »Als die Kellnerin sich zu ihm setzte, tat er nach einiger Zeit, als wollte er den Arm um sie legen; sie merkte, daß er nur so tun wollte, und lehnte sich zurück, noch bevor er deutlich machen konnte, daß er nur so tun hatte wollen. Bloch wollte sich rechtfertigen, indem er den Arm wirklich um die Kellnerin legte; aber sie war schon aufgestanden. Als Bloch aufstehen wollte, ging die Kellnerin weg. Jetzt hätte Bloch so tun müssen, als wollte er folgen. Aber das war ihm zuviel, er verließ das Lokal.« Auch hier ist wieder das Bild unscharf, mehrere Sichtweisen überlagern sich. Die scheinbar auktoriale Erzählperspektive (»sie merkte, daß er nur so tun wollte«) wird nachträglich als personale entlarvt: Es ist aller
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