Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
einen minimalen psychologischen Auslöser: Gerdas Frage nach Blochs Arbeit. Aber das allein wäre nach konventionellen, realistischen Erzählmustern zu wenig, zumal auf den zwanzig Seiten vor dem Mord nirgends zur Sprache kommt, dass Blochs Entlassung, seine Arbeitslosigkeit für ihn ein Trauma darstellen.
Wenn ich also weder einen starken (oder tragischen) Helden habe, dessen Schicksal mich durch die Geschichte zieht, noch spannende, aufgeladene Figureninteraktionen, keine Psychologie – was ist es dann, was beim Lesen des Textes diesen ungeheuren Sog erzeugt? Die Erzählung wurde oft als der Versuch gelesen, die Innenwelt eines Flüchtigen, eines Mörders abzubilden – was beim Leser eine gewisse Neugierde und damit so etwas wie Spannung erzeugen könnte. Das trifft den Text aber nur ungenau. Dieser Lesart widerspricht vor allem die Tatsache, dass Bloch von der ersten Seite an ein Getriebener ist, der die Welt und ihre Zeichen missversteht. Schon die ersten zwei Sätze führen die misslingende Kommunikation, oder genauer: das Scheitern an den Zeichen, das permanente Fehldeuten der Umwelt vor: »Dem Monteur Josef Bloch, der früher ein bekannter Tormann gewesen war, wurde, als er sich am Vormittag zur Arbeit meldete, mitgeteilt, daß er entlassen sei. Jedenfalls legte er die Tatsache, daß bei seinem Erscheinen in der Tür der Bauhütte, wo sich die Arbeiter gerade aufhielten, nur der Polier von der Jause aufschaute, als eine solche Mitteilung aus und verließ das Baugelände.« Eine Kippfigur – das erste von unzähligen Vexierbildern der Erzählung: Etwas wird erzählt, ein Bild wird erzeugt, und sofort wird das Erzählte wieder in Frage gestellt. Der erste Satz tritt auf als die denkbar einfachste Informationsvergabe einer über den Dingen schwebenden neutralen (oder allwissenden) Erzählinstanz. Ich erfahre etwas über die Hauptfigur (Beruf; früherer Beruf; aktuelles, einschneidendes Ereignis: die Entlassung). Und dann, mit dem zweiten Satz, kippt das Bild um. Plötzlich wird klar, dass die zentrale Information, das Aufregungsmoment des ersten Satzes – die vorgebliche Entlassung – auf einem Missverständnis beruht: »Jedenfalls legte er die Tatsache (…) als eine solche Mitteilung aus. Demnach schaltet sich erst hier, wie ich als Leser jetzt feststellen muss, eine (vermutlich) objektive (d. h. auktoriale) Erzählinstanz ein; und im Nachhinein erkenne ich, dass ich dem ersten Satz nicht zuviel Glauben schenken sollte, dass er personal eingefärbt war. Im ersten Satz wird mir unter dem Deckmantel der Objektivität Blochs Sicht auf die Dinge präsentiert. Oder anders gesagt: Mit dem ersten Satz würde Josef Bloch, hätte er ein Buch über sich zu schreiben, das Buch beginnen. Dazu passt auch, dass ich schon im ersten Satz, die an sich irrelevante Information erhalte, dass Bloch früher Tormann war – das erfahre ich lediglich deshalb, weil Bloch darauf stolz ist; es ist ihm ein Bedürfnis, diese Tatsache sofort mitzuteilen. Der zweite Satz lässt den ersten unglaubwürdig erscheinen: Das Nichtaufschauen der essenden Arbeitskollegen ist eben keinesfalls ein Zeichen dafür, dass Bloch entlassen werden soll oder schon entlassen worden ist. Vielmehr erklärt mir hier eine (vermeintlich) objektivere Erzählinstanz, wie es dazu kommen kann, dass Bloch das Empfinden hat (und quasi die Aussage formuliert), er sei entlassen worden. In dieser Weise vexiert das Bild, wird die Aussage, die Hauptinformation des ersten Satzes in Frage gestellt – und umgekehrt. Denn auch im zweiten Satz könnte es Bloch sein, der gewissermaßen personal weitererzählt: Denkbar wäre, dass es auch hier wieder Blochs Gedanken sind, die im Ton des neutralen Erzählens präsentiert werden. Dann wäre es Bloch selbst, der seine eigene, vorherige Sicht auf die Dinge (»Ich bin entlassen!«) in Frage stellt und der nicht mehr in der Lage ist zu entscheiden, welche Schlüsse er aus dem Nichtaufschauen der Kollegen ziehen sollte. Anstelle einer raschen, dialogischen Bildauflösung spielt die Erzählung also mit Schärfeverlagerungen und Doppelbelichtungen ein und derselben Einstellung; die Folge davon ist eine permanente Teilunschärfe, ein Zittern der Bilder.
Von dieser vexierenden, sich ihm nie klar zeigenden Umwelt ist Bloch in fast bedrohlicher Weise umzingelt. Selbst kleinste, alltägliche Handlungen werden zu Prüfsteinen, sie demonstrieren Blochs Unfähigkeit, mit der Welt zurechtzukommen: »Bloch warf die Karten ein. Als sie in den
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