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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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erzählenden Mimesis-Skeptiker, der auf romantische Traditionen zurückgreifenden Weltgewebe-Erklärer. Eine Schule, die in mancher Hinsicht einen Gegenpol darstellte zu den Techniken des amerikanischen Creative Writing, deren psychologischhollywoodeskes Weltbild von der Figur, der Figurenbiografie und den zwischenmenschlichen Spannungen als Erzählmotoren ausgeht. Manche der Handkeschen Techniken sind aber sogar – in einer gestreckten Dosierung – auch für das klassisch-realistische (›amerikanische‹) Schreiben sehr brauchbar. Die dort entscheidende Technik des ›showing‹ – also des erzählerischen ›Zeigens‹ – bedient sich häufig eines ähnlichen Verfahrens: Die Gefühle der Figuren werden auch dort (wie bei Handke) nicht benannt; stattdessen werden in den Fluss der Handlung kurze Beschreibungen der Außenwelt eingeflochten, durch deren Charakteristika die Stimmung der Figuren plastisch wird. Demnach kann ich auch für eine Erzählung nach dem Bauplan Carvers an einigen Stellen Handkesche Techniken dezent zum Einsatz bringen, insbesondere die (vexierende) Beschreibung von Außenwelt, um innere Stimmungen zu spiegeln.
    Was genau könnte ich mir also von den Handkeschen Techniken aneignen? Wie ich durch den Einsatz von personalem Erzählen, das sich mit auktorialem abwechselt, die innere Zerrissenheit eines Aus-der-Welt-Gefallenen abbilden kann. Wie ich durch Zeitsprünge und die Reduktion auf die wesentlichen Momente ein hohes Erzähltempo, einen regelrechten Sog erzeuge. Und wie ich durch wenige psychologisch-narrative Momente (bei der vorliegenden Erzählung: die Entlassung, der Mord) auch einer weitgehend disparaten Ansammlung von Einzelbeobachtungen einen Drive, eine innere Spannung verleihe und ein richtungsloses, auseinanderfallendes Weltbeobachten vermeide.
    Noch grundlegender aber sind Handkes genaue Beobachtungen, deren Studium ich ohnehin jedem Erzähler anrate. Ihre überscharfe Qualität bildet die Grundlage, auf der die besagte Entrücktheit, das Aus-der-Welt-gefallen-Sein überhaupt erst plastisch wird. Um schreibend diese Ex-Zentrik in den Beobachtungen zu erreichen, möchte ich vorschlagen, mit Müdigkeit zu experimentieren. Handke selbst hat diesem Zustand mit dem Versuch über die Müdigkeit einen längeren Essay gewidmet. Er zielt dabei nicht auf die schlichte Dumpfheit, die mit einem Mangel an Schlaf einhergeht; eher meint er so etwas wie einen existentiellen Zustand, in dem das Bewusstsein zumindest partiell die Kontrolle über die Gedanken aufgegeben hat. Eines der Kennzeichen dieses Zustands ist für Handke die »Durchlässigkeit«; die die Welteindrücke ordnenden Filter sind weiter geöffnet, die Welt dringt anders auf den Müden ein. Dieser Müdigkeitszustand lasse sich, so Handke, nicht einfach durch Schlafentzug herstellen; trotzdem halte ich es für einen Versuch wert, sich nach durchwachter Nacht in den frühen Morgenstunden einer Landschaft oder Stadtlandschaft auszusetzen und Beobachtungen zu notieren. Zwangsläufig gerät man mit einer anderen, seltsam ausgestorbenen Welt in Kontakt; kleine Dinge, Geräusche, die ersten Menschen werden zu Sensationen; hinzu kommt der entrückte, übersensible (müde, schlafbedürftige) Zustand, der die einordnenden, die Zeichen bewältigenden Prozesse verlangsamt und die Künstlichkeit, die Widerständigkeit der uns umgebenden Welt aufscheinen lässt.

Aufgabe
    Gehen Sie nach einer durchwachten Nacht, in einem Zustand großer Müdigkeit auf die Straße. Notieren Sie, was immer Ihnen auffällt, was Ihre durch die Müdigkeit entstellten Sinne wahrnehmen: das überlaute Dröhnen des Müllabfuhrwagens, das Klingeln der Halsmarken eines vorbeilaufenden Hundes, das Knistern einer Plastiktüte unter Ihrer Fußsohle. Aus diesen Notaten bauen Sie einen Text. Versuchen Sie dafür einen Grund zu erfinden, warum sich Ihre Hauptfigur in einem Zustand nervöser Überspanntheit befindet. Vielleicht ist er oder sie auf der Flucht oder in jemanden verliebt ohne Hoffnung auf Gegenliebe oder er bzw. sie verfolgt jemanden. Komponieren Sie Ihre Notate so, dass dem Leser klar wird, dass es sich um alltägliche Beobachtungen handelt, die jemand – Ihre Hauptfigur – als Bedrohung wahrnimmt, als Zudringlichkeiten der Umwelt. Vermeiden Sie dabei die Ursache für dieses Aus-der-Weltgefallen-Sein allzu schnell preiszugeben, deuten Sie dies, wenn überhaupt, eher nach und nach an.

GEORG M. OSWALD
    Der andere Process
    Albert Drach: Untersuchung an Mädeln

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