Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Wahrscheinlichkeit nach Bloch, der sich lediglich vorstellt, dass die Kellnerin merkt, dass er nur so tun will – und sich daraufhin zurücklehnt. (Möglicherweise lehnt sich die Kellnerin aber aus einem ganz anderen Grund zurück, zum Beispiel weil sie schlicht von der Arbeit erschöpft ist.) Aber eindeutig kann ich an diesem Punkt nicht entscheiden, was Blochs Vorstellungen sind und was von einer auktorialen Erzählinstanz berichtet wird: Das Bild flimmert. Deutlich wird dabei aber in jedem Fall Blochs (weitgehend) uneingestandene Überforderung mit der Situation.
Ohne auf den hundertzwanzig Seiten der Erzählung zum vollständigen Zusammenbruch zu führen, durchläuft diese Weltentrücktheit verschiedene Stadien oder Aggregatzustände: die Unfähigkeit, sich Dinge oder auch nur die unmittelbare Umgebung vor dem inneren Auge vorzustellen; das Auseinanderfallen der Dinge an sich und der Bezeichnungen dieser Dinge (durch Wörter); die Dissoziation größerer Zusammenhänge; komplementär dazu die zwanghafte Erfindung neuer Zusammenhänge (die sich gegen Bloch verschworen zu haben scheinen) und die paranoid eingelesene Zeichenhaftigkeit in kleinste, alltägliche Dinge, um nur einige Momente des angedeuteten Wahnsinns herauszugreifen. Dabei präsentiert die Erzählung ständig Vexierbilder, vollführt immer wieder Schärfeverlagerungen nach dem oben beschriebenen Prinzip, dass eine Innensicht, die als solche zunächst nicht zu erkennen ist, durch die anschließend präsentierte, klärende Außensicht in Zweifel gezogen wird. Auf diese Weise inszeniert die Erzählung ein permanentes Zittern der Bilder; genauso wie ich das rastlose Umherschweifen Blochs in Wien und später in dem Grenzdorf als eine Zitterbewegung ansehen kann. Eben dieses Zittern, die rastlose Weltentrücktheit, die überscharfe, permanente Wahrnehmungsexzentrik sind es, die der Erzählung trotz des weitgehenden Verzichts auf Erzählpsychologie und klassische Suspense-Techniken eine ungeheure Spannung verleihen; hinzu kommt die Geschwindigkeit, mit der erzählt wird, chronologisch und dennoch in starkem Maße ausschnitthaft. Die Erzählung präsentiert uns eine Perspektive, eine Sicht auf die Welt, einen Kopf, aus dem heraus ich beim Lesen des Textes die Welt (als den Antagonisten Blochs) wahrnehme. Deshalb endet der Text auch an so einem merkwürdigen, beinahe beliebigen Punkt – Bloch wird Zeuge eines Elfmeters – und nicht entsprechend der Genrekonvention des Kriminalromans mit der Festnahme oder der geglückten Flucht des Mörders.
Welche Funktion haben dann diese klassisch narrativen Momente, die im Text vorhandenen Reste einer Spannungsdramaturgie: der Mord, die Flucht, die über die Zeitungslektüre verfolgte Verdichtung der Indizien, der zunehmende Geldmangel Blochs? Der Mord ist weder Ausgangspunkt noch Finale der Erzählung, sondern eine der unzähligen getriebenen, beinahe willenlosen Handlungen des Monteurs, ein weiteres Verstricken in dem Weltnetz, in dem sich Bloch verfangen hat. Zugleich wirkt der Mord – und darin ist er der Initialzündung, der vermeintlichen Entlassung Blochs ähnlich – wie ein erzählerischer Katalysator: Die zitternde Weltentrücktheit lässt sich immer auch lesen als das Trauma eines urplötzlich Entlassenen oder als der panische Versuch eines flüchtigen Mörders, weiterhin mit der Welt zurecht zu kommen und dabei unauffällig zu bleiben. Diese Momente dienen dazu, diese außergewöhnliche Weltsicht, die zitternden Bilder, die Hypersensibilität der Hauptfigur inszenieren und intensivieren zu können. Zugleich geben sie dem Text eine Richtung, einen untergründigen Drive: Bloch steuert unweigerlich auf sein Verderben zu – auch wenn uns der Punkt des Zusammenbruchs bzw. der Festnahme folgerichtig nicht erzählt wird. Die verschiedenen paranoiden Wahnvorstellungen erhalten so eine Art narratives Außenskelett, mit dessen Hilfe das Wahrnehmungsmaterial formbar, handhabbar, erzählbar wird.
Was also kann ich vom Lehrmeister Handke lernen? Wie ich Spannung erzeuge, ohne auf klassische Suspense-Techniken zurückzugreifen. Und wie ich innere Stimmungen wie Zerrissenheit, Weltentfremdung oder auch Wahnvorstellungen durch die Beschreibung von Außenwelt plastisch machen kann. Die Angst des Tormanns beim Elfmeter ist der Gegenentwurf zum glatten angloamerikanischen Erzählen nach dem Vorbild Raymond Carvers (oder Judith Hermanns); zu gründen wäre mit Handke eine Schule der Wahrnehmungsexzentriker, der
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