Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
[1971]
I.
Nach einem Lehrmeister befragt, fiel mir nach dem Namen Franz Kafka als nächster Albert Drach ein, und weil ersteren zu nennen so unoriginell gewesen wäre, sagte ich zu, mich hier mit zweiterem zu befassen, was so unrichtig nicht ist, schon weil, entgegen einer weithin für gültig erachteten Ansicht, der erste Einfall nicht immer der beste sein muss.
Kafka und Drach waren schreibende Juristen, und obwohl es nicht der unfreiwilligen Komik entbehrt, sich mit ihnen in einem Atemzug zu nennen, muss ich es dennoch tun, weil ich mich durch Lektüre ihrer Werke sowie durch ein Studium der Rechte in einen zweifachen, durch die Verfolgung literarischer Ambitionen sogar in einen dreifachen Zusammenhang brachte, der mich jahrelang beschäftigte.
Kafkas Werk lernte ich als Gymnasiast kennen, Drachs als Rechtsreferendar nach dem Ersten Juristischen Staatsexamen. Spätestens als Kafkas Amtliche Schriften erstmals in Buchform erschienen, konnte jedermann einsehen, wie viel seine literarische Prosa seiner juristischen verdankte. Kafka hat die Sprache der Ämter, die sich zur Ausstellung ihrer Autorität der Terminologie des Rechts bedient, zu einer Sprache der Dichtung gemacht, mit einem Wort: poetisiert. Der Brief an den Vater ist auch ein Ermittlungsbericht, der Process auch eine – wenngleich bodenlos ironische – Klageschrift, das Schloss auch eine ins Phantastische ausufernde Verwaltungsrichtlinie. Wer Beispiele aus der juristischen Praxis kennt, wird dieser Betrachtungsweise folgen.
An Kafkas Prosa bezaubert, dass er die juristische Sprache auch im umgangssprachlichen Sinn poetisiert hat, er hat sie »schön gemacht«, ein begnadeter Stilist, der, das spricht aus jeder seiner Zeilen, um seine Begabung weiß. Eine Tatsache, die in schroffem Gegensatz zu seiner Selbstinszenierung als Schriftsteller steht, der, unter Missachtung eines väterlichen Gebots, im Verborgenen schreibt.
Auch Albert Drach hat sich der juristischen Sprache bedient, um sie für die Literatur fruchtbar zu machen, doch was bei Kafka Parabel wird, gerät bei Drach zum Protokoll. So heißen auch bereits die ersten Erzählungen, die er als Mittzwanziger veröffentlicht, Kleine Protokolle . Von Anfang an ist das Unmenschliche der einzige Gegenstand seiner Literatur. Albert Drach weiß sich der Sprache als Herrschaftsinstrument virtuos zu bedienen. Er weiß einer vermeintlichen Rationalität gemäß zu formulieren, die auch noch die größten Ungeheuerlichkeiten vernünftig erscheinen lässt. Aber er ist ein Abtrünniger, denn er richtet die Waffe, die er zu gebrauchen gelernt hat, gegen ihre Erfinder. Was dabei entsteht ist erhellend, erkenntnisreich, aberwitzig, komisch auch – aber schön, im Sinne von gefällig, ist es nicht. Er verschreckt die Leserschaft, seinen Zynismus findet sie zuweilen verstörend, gar empörend. Zwar leidet er unter der mangelnden Anerkennung durch das Publikum, an seiner Haltung ändert das nichts. Er paktiert nicht mit den bestehenden Verhältnissen. Ein Blick auf seine Biografie mag das erläutern.
II.
»Wien, XII. Bezirk: 17.12.1902 scheintot in die Welt geprügelt.
Lunz am See, Sommer 1908: Wahrnehmung, wie ein ertrunkener Betrunkener nach 14 Tagen entstellt aus Schilf auf Leiterwagen geschleudert. Beschluß, unsterblich und dazu Dichter zu werden.«
Schon die ersten Zeilen einer Kurzbiographie Albert Drach von ihm selber verfasst lassen keinen Zweifel daran, dass er im Streit war mit der Welt. Einem Streit allerdings, den er nicht angefangen hatte.
Albert Drach wurde als Sohn jüdischer Eltern in Mödling bei Wien geboren. Sein Vater war als Gymnasiallehrer für Mathematik und Physik ein angesehener Bürger der Kleinstadt. Die Familie Drach gehörte jener großen Zahl assimilierter Juden in Österreich an, die nach der ›Machtergreifung‹ der Nazis erkennen mussten, dass sie ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnten. 1938 begann Albert Drachs Flucht, die in seinem Roman Unsentimentale Reise beschrieben ist. »Als Jude zu Verbrennungszwecken« wurde er nach Südfrankreich deportiert und dreimal interniert, kam aber jedes mal wieder frei und hielt sich bis 1942 in Nizza versteckt. Die »Fremdenpolizei« griff ihn auf und verschleppte ihn nach Rives Altes in ein Sammellager. Doch auch diesmal gelang es ihm zu entkommen, indem er dem Ministerium für jüdische Angelegenheiten den falschen Nachweis erbrachte, kein Jude zu sein. Die Täuschung gelang durch einen 1939 vom damals bereits
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