Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
folgend, genauso selbst erschließen kann. Zunächst werden wir uns von der Erzählung leiten lassen, werden Monat für Monat erst Beobachtungen am Bienenstand machen, in einem zweiten Schritt aus ihnen allgemeines Bienenwissen ziehen und schließlich die jeweils notwendigen Arbeiten verfolgen. Bald allerdings fallen uns Motivwiederholungen ins Auge, möchten wir frühere Passagen noch einmal lesen, weil uns ein wichtiges Detail entgangen ist, auf dem nun aufgebaut wird – wir arbeiten also bereits an unserem eigenen Text.
Im Februar etwa wird auf die guten Erfahrungen mit Rainfarn als Rauchmaterial hingewiesen. Im Juli sehen wir seine gelben Dolden auf einer Farbphotographie. Ende August endlich werden wir Rainfarn sammeln, häckseln und auf großen Planen trocknen. Rauchmaterial für den Februar – im Buch jedoch liegt der Februar bereits lange zurück.
Jeder Laie weiß, eine angriffslustige Biene lässt sich schon an ihrem eigenartigen Flugton erkennen. Beim Lesen von Mein Bienenjahr ist mir an mehreren Stellen aufgefallen, welche Rolle Schallereignisse im Gleichgewicht zwischen Imker und Honigbiene spielen. »Wer Sorgen hat, ob ein Volk noch lebt, horche nahe am Flugloch«, rät die Autorin für die Winterzeit, wenn nichts zu sehen ist: »er hört dort ein feines Brummen und weiß, alles ist in Ordnung!« Umgekehrt nimmt die Biene wahr, was außerhalb des dunklen Stockes vor sich geht, und schließt von den Geräuschen auf physische Präsenz. So muss der Imker dafür sorgen, dass über den Winter hinweg keine vom Wind bewegten Zweige an der Beute kratzen, die Bienen geraten in Unruhe, die Ruhr breitet sich aus, das Volk geht ein. Akustik und Temperaturhaushalt, das Wohlbefinden sowohl der Bienen wie des Imkers: Vielleicht wird so, läse ich nun unter diesem Gesichtspunkt genauer, über das Buch hinweg ein nahezu unsichtbares Netz gesponnen.
Vieles geschieht im Unsichtbaren bei der Imkerei. So heißt es anlässlich der ersten Frühjahrsnachschau im April, da wir ein zweiräumiges, also in zwei übereinanderstehenden Magazinen wohnendes Bienenvolk in Augenschein nehmen: »Unten kontrollieren wir grundsätzlich jetzt noch nicht, wenn das Volk ruhig erscheint.« Das Geschehen im oberen Magazin lässt auf das Geschehen unten schließen. »Der untere Raum, in dem sich die Menge der Flugbienen aufhält und der zeitweilig hauptsächlich als Pollenlager genutzt wird, bleibt eigentlich den ganzen Sommer von uns unberührt.« Bienenhaltung hat auch mit Diskretion zu tun.
Wir lesen die Bienen, und dabei fragen wir uns ständig: Wie lesen jetzt die Bienen mich? Am Bienenstock wird permanent codiert und decodiert. Eine Veranschaulichung dieses Prinzips, die in keinem Bienenbuch fehlen darf: Wer Angst hat, wird gestochen. Angstschweiß nämlich macht Bienen aggressiv.
Die Imkerin über der offenen Magazinbeute, sie wendet den Blick nicht dem Betrachter zu, sie hält ihn auf den schmalen Luftraum zwischen Honigwabe und Abkehrbesen gerichtet, ganz Ausdruck der furchtlosen Konzentration. Die Bienen kennen ihre Meisterin, meint man, sie kann sich schutzlos nähern, denn keiner wird dem anderen etwas zuleide tun. »Ich arbeite am liebsten ohne Schleier, nur mit leichtem Kittel oder ärmellos im warmen Sommer«, schreibt sie, und: »Handschuhe tragen wir nicht, sie behindern uns bei der Arbeit.«
Wie schützt sie sich dann aber gegen Stiche? Sie muss den Bienen gegenüber Unverwundbarkeit ausstrahlen. Selbstverständlich sind dabei die ruhigen, zügigen, gezielten Bewegungen von großer Bedeutung. Wichtiger noch ist der Geruch. Nur nicht mit Hautschweiß Angstsignale geben – man könnte sagen, der gute Imker weiß sich direkt in das Hormongefüge seiner Völker einzuklinken. Handschuhe oder gar ein Schutzanzug würden diesen beruhigenden Geruchsaustausch aus dem Gleichgewicht bringen. Daneben ermöglicht die Handschuhlosigkeit nicht nur rasches und präzises Arbeiten, die nackte Hand gibt auch der Imkerin selber Signale, die wiederum den eigenen Hormonausstoß regulieren. Eine Selbstvergewisserung: Ich sehe, ich kann mit bloßer Hand in meine Völker gehen, ich spüre keine Furcht, und so bin ich gegen mögliche Angriffe gefeit. Hier kommt die nach und nach erreichte Immunität der Imker gegen Bienengift zum Tragen, der Körper weigert sich, den Stich als Angriff aufzufassen, dem mit einer allergischen Reaktion oder einem Gegenangriff zu begegnen wäre. Ich kenne keine Feinde – darum bin ich unverwundbar.
Und nicht
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