Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
wir auf dunkle Stellen im Text, die auch die zahlreichen photographischen Illustrationen nicht erhellen helfen – eine, wie mir inzwischen scheint, besondere Spezialität von Bienenbüchern. So musste ich, nachdem ich selbstverständlich meinte, ich hätte zumindest einen annähernd brauchbaren Begriff von »Mittelwand«, bei der gezielten Suche nach einer Definition einsehen, dass ich weder erklären könnte, was »Mittelwand« genau bedeutet, noch wozu Mittelwände eigentlich dienen. Warum werden sie wann an welcher Stelle in ein Magazin gehängt? Ich bin mir sicher, mir würde die Bedeutung unmittelbar klar, sähe ich einem Imker bei der Arbeit zu, ohne dass er ein Wort sagen müsste.
Eine erste Lektion hätten wir somit bereits Anfang Januar gelernt, hektisch herumblätternd, während bei den Bienen vollkommene Ruhe herrscht: Wir sollten uns nicht aufregen, wenn wir auf unbekannte Wörter stoßen, dabei verbrennen wir nur unnötig Energie – im Winter kann das tödlich sein. Besser, wir konzentrieren uns auf den Text. Sollten wir schwächeln, greifen wir zum Honigglas. Fremdes Vokabular: Unverhoffte Blicke durchs Flugloch, in eine andere Welt, da drinnen, da draußen. Entweder folgen wir der Imkerinnenstimme geduldig Monat für Monat durch das Jahr, oder wir gehen gleich zugrunde, weil uns die Fluglöcher vereisen.
Was heißt das aber: Monat für Monat durch das Bienenjahr? In ihrem zweiten Januarabschnitt gibt Lieselotte Gettert zu bedenken: »Ich möchte nicht sagen, zu diesem oder jenem Zeitpunkt beginnt das Bienenjahr.« Nehmen wir flankierend die Anfänge zweier berühmter Bienenbücher hinzu, Die Biene Maja und ihre Abenteuer von Waldemar Bonsels, 1912, und Aus dem Leben der Bienen von Karl von Frisch, 1927. »Die ältere Bienendame, die der kleinen Maja behilflich war, als sie zum Leben erwachte und aus ihrer Zelle schlüpfte, hieß Kassandra und hatte großes Ansehen im Stock«, heißt es bei Bonsels, und: »Es waren damals sehr aufgeregte Tage, weil im Volk der Bienen eine Empörung ausgebrochen war, die die Königin nicht unterdrücken konnte.« Schwarmstimmung also, der Stock ist nach längerer Bruttätigkeit übervölkert, zudem hat die Königin ganz offensichtlich Hormonprobleme. Der Zeitpunkt: Mitte Mai.
Karl von Frisch gibt mit seinen Einleitungssätzen einen größeren Rahmen vor, in dem sich Mensch und Biene begegnen können: »Der Naturfreund hat zweifach Gelegenheit, mit den Bienen unschwer eine Bekanntschaft anzuknüpfen: geht er an einem warmen Frühlings- oder Sommertag einem blühenden Obstgarten oder einer blumigen Wiese entlang, so sieht er, wie sie sich an den Blüten zu schaffen machen; und wenn er am Bienenstande eines Imkers vorbeikommt, so sieht er sie dort an den Fluglöchern ihrer Wohnungen aus- und einfliegen.« Setzen wir die erste Pollentracht als frühesten Zeitpunkt an, beginnt das Bienenjahr demnach – abhängig von der Wetterlage – irgendwann im Laufe des März. Vom Januar ist nirgendwo die Rede.
Weil Lieselotte Gettert sich jedoch vorgenommen hat, einen Arbeitskalender für den Imker zu schreiben, müssen gleich zu Beginn Menschenzeit und Bienenzeit in Konflikt geraten. »Das Bienenleben«, schreibt sie, »ist wie alles Leben ein steter Kreislauf.« Wer einen Punkt als Anfang festlegt, darf das immer nur unter Vorbehalt tun: »Viele legen diesen Beginn in den Juli, wenn sich das Volk auf den Winter vorbereitet. Aber dann müssen unsere Jungvölker längst in guter Entwicklung sein und die Wirtschaftsvölker sollten noch Tannentracht haben.« Schon die Detailfrage nach einem bestimmten Punkt als Bienenjahrbeginn macht deutlich, dass wir es mit hochkomplexen, dabei fragilen Strukturen zu tun haben, die wir kaum annähernd durchschauen. Und je nach Perspektive, die wir einnehmen, scheint es, als änderte sich, indem sich unsere Vorstellung von ihr ändert, auch die Konstruktion selbst. »Jetzt herrscht bei den Bienen vollkommene Ruhe«: Was, wenn der Eingangssatz gar nicht den Anfang des Jahres, den Anfang dieses Buches markierte?
Indem sie im ersten Kapitel auf die Unvereinbarkeit von Menschenkalender und Bienenkalender eingeht, weist Gettert uns indirekt auf eine weitere Qualität ihres Arbeitskalenders hin. Wie in jedem anregenden Buch findet sich in Mein Bienenjahr neben der auf Anhieb erkennbaren Struktur ein Muster teils verborgener Strukturen, die von der Autorin gelegentlich durch Querbezüge angedeutet werden, die sich der Leser aber, eigenen Spuren
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