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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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zuletzt wird die intensive Tasterfahrung mit den Bienen zu Lieselotte Getterts Unverwundbarkeit beitragen. Im Junikapitel gibt sie einen knappen, eindrücklichen Bericht, wie sie – aus einem Imkerhaushalt stammend – in ihrer Ausbildung damit betraut wurde, unbegattete Königinnen mit einem Zeichenplättchen zu markieren: »Wichtig dabei war, die Tiere so am Brustkorb zu halten, daß ich nicht gestochen wurde (Bienen bewegen den Hinterleib nur auf- und abwärts, nicht seitlich). Erst wenn etliche Arbeitsbienen diese Prozedur lebend überstanden, durften auch Königinnen gezeichnet werden.« – Die Übung am einzelnen Insekt, mit nackten Fingern, als Aneignung taktilen Bienenwissens.
    Berührung und Geruch, die Aufmerksamkeit für Bewegungsgeschwindigkeiten und, natürlich, Farben: Die Imkerin hat sich durch steten, genauen Umgang mit diesen Insekten tief in die Welt der Biene hineingedacht, hat sich einen Antennenersatz geschaffen. Die Autorin schätzt ihre Bienen, weiß sie sehr gut einzuschätzen. Doch ich bin mir sicher, für das Gelingen der Arbeit ist ein weiterer Zug von vielleicht entscheidender Bedeutung, und ich meine, man kann ihn aus dem Photo von der Honigernte herauslesen, aus diesem Blick, den Lieselotte Gettert auf die abgefegte Wabe wirft: Sie mag unendliches Bienenwissen gesammelt haben – zugleich lässt sie erkennen, wie gut sie weiß, dass diese Tiere ihr Geheimnis nie verlieren werden.
    Der forschende Blick in den Honigraum: eine Übung in kontrolliertem Schweifen. Jeder Handgriff am Bienenstand ist einstudiert, folgt einer minutiös angelegten Dramaturgie, die nur dann abgewandelt wird, wenn Unvorhergesehenes geschieht oder beobachtet wird, im Volk, im Kasten, an den Waben. Das laienhafte Wegzucken, ja, bereits eine unprofessionelle, von unstillbarer Neugier angetriebene größere Nachschau am Morgen brächte Unordnung ins Volk, würde zu Honigausfall führen.
    Es gibt keine natürliche Bewegung über dem offenen Zandermagazin, so wie es auch kein natürliches Sprechen gibt. Alles ist Inszenierung, Künstlichkeit, Regelbefolgen oder eben Abweichen von einem gegebenen Regelwerk. Wer meint, Sprache sei etwas Gegebenes, sei einfach da, und Schreiben heiße, auf Papier zu plaudern, den schicken wir ins Bienenhaus. Es gibt keine natürlichen Sätze.
    Natur? Klotzbeute, Lüneburger Stülper, Kanitzkorb, Dathe-Zwilling, Deutsche Normalmaßbeute, Badischer Vereinsstock, Dreiraumbeute »Universell« von Nenniger-Hoehn, Längsbau-Lagerbeute von Golz, Querbaubeute von Bremer, Langstroth-Beute, Dadant-Beute, Segeberger Kunststoffbeute, die Hofmann-Beute, heute auch Alpentrogbeute genannt, die Zanderbeuten, namentlich Zander-Normalmaß-Magazinbeute, Erlanger Magazin und Hohenheimer Beute. – Allein diese kurze Liste künstlicher Bienenwohnungen macht augenfällig, wie eng das Verhältnis zwischen Mensch und Honigbiene ist. Zuchtbienen, die sich als unberechenbar erweisen können. Der Imker weiß um die Heftigkeit seiner Eingriffe in die Bienenordnung. Im Bienenstock treffen Natur und Kultur auf engstem Raum zusammen. Demgemäß zeugt die Sprache in Mein Bienenjahr von einem Höchstmaß an Reflexion – nur so lässt sich ein klares Bild von den beobachteten Vorgängen liefern. Und wir üben die Imkerperspektive ein.

    Der hochcodierte Umgang mit den Bienen schlägt sich in der Sprache nieder. Würden wir uns für die Betriebsart im Warmbau oder im Kaltbau entscheiden? Natürlich mag der Kaltbau weniger praktisch sein, aber ein Schriftsteller kann sich vielleicht nur schwer der Aussicht entziehen, in einem Blätterstock zu blättern. Das unerschöpfliche Wörterbuch des Imkers. Hier gehen Denkschärfe und Plastizität zusammen. Wer nicht mit ganzer Geistesgegenwart beobachtet, entlarvt sich unwillkürlich auch als sprachfaul. Und die Schärfe der Beobachtung bringt geheimnisvolle Wörter hervor. Hier zeigt sich: das Poetische ist das Präzise.
    Nach und nach werden wir in Mein Bienenjahr mit diesem Vokabular vertraut gemacht, folgen Beschreibungen, die uns teils bekannt erscheinen, werden in neue, im jeweiligen Monat notwendige Handgriffe eingewiesen und kommen so mit neuen Wörtern in Berührung. Viel besser ist das, als etwa ein Glossar der Imkersprache durchzugehen – die alphabetische Ordnung verrät uns nicht, wie eng die einzelnen Arbeitsschritte ineinandergreifen, wie sich, wo Mensch und Biene aufeinandertreffen, die Wörter zueinander verhalten. Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch am

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