Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
immer wieder anderer Weise, jede Situation kann das Erfahrungswissen auf die Probe stellen.
Der Mensch, wo er mit Kräften konfrontiert ist, die er kaum annähernd versteht: Hier setzt die Kunst ein. Anlocken, abwehren, gefügig machen, bannen. Man könnte fragen, ob nicht die frühesten Manifestationen dessen, was wir heute Kunst nennen, überhaupt allesamt Versuche waren, jene Tiere im Zaum zu halten, mit denen der Mensch Umgang hatte. Ob er sich dabei nun göttlicher oder menschlicher Kräfte bediente – wichtig ist vielleicht in erster Linie, dass er tierfremde Mittel nutzte, Werkzeuge, über die Tiere eben nicht verfügen: Zeichen, Abbildung, Menschensprache.
Der Mensch selbst rückt erst nach und nach ins Blickfeld künstlerischer Arbeit, die längste Zeit ist er von einer zentralen Position weit entfernt. Ritzungen, Musterbildungen, Anordnungen vorgefundenen Materials in der Landschaft, Einfärbungen, Felsmalerei. Eine Zeichnung in der Arana-Höhle bei Bicorp, Provinz Valencia, um 12 000 vor unserer Zeit entstanden, zeigt ein Felsloch als Wohnung wilder Bienen. Ein Höhlenbild in einer Höhle. Der Bien ist in Aufruhr, von unten kommen zwei menschliche Honigdiebe an einem Seil heraufgeklettert, beim Wabenbrechen werden sie kaum auf das Hersagen magischer Formeln verzichten wollen.
So führt ein direkter Weg von der Bienennutzung in die Literatur. Bienen füttern den jungen Jupiter – in einer Grotte. Später füttern sie Pindar und Platon im Schlaf. Sie führen, so Vergil, ihr Leben unter »großen Gesetzen«, und die sind nicht allein Gesetze der Natur. Nach Plinius haben sie eigene Sitten, erweisen sich als kunstfertige Wesen. So stehen sie den Dichtern nah. Und Dichter wirken in der Art der Bienen, da »sie von honigströmenden Quellen aus wundersamen Gärten und Tälern ihre Lieder einsaugen und sie zu uns bringen«, wie es Platon im Dialog Ion Sokrates sagen lässt.
An der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert, in einer Zeit gravierender Umbrüche, erweisen sich dann Bienenbilder in der Literatur als besonders produktiv. Gesellschaften zerfallen, Gesellschaften entstehen, die alten Weisel zeigen sich müde, die Arbeitsvölker werden unruhig. Maurice Maeterlinck, wie er sich in Das Leben der Bienen bemüht, das friedliebende Wesen der Honigbiene in den Mittelpunkt zu rücken, und Proust, der Maeterlinck-Verehrer, wie er den Garten seines Lieblingsautors imaginiert, »wo der Vergil Flanderns neben rosa, gelb und zartblau gestrichenen Bienenkörben aus Stroh, die uns schon beim Eintritt an seine Lieblingsstudien erinnern, so viel unvergleichliche Poesie eingesammelt hat«.
Im selben Jahr, als die Biene Maja sich in Bonsels Roman auf die Suche nach den Menschen macht, bekommen wir auch den Jungen namens Marcel erstmals zu Gesicht, in einer Vorabveröffentlichung aus der Suche nach der verlorenen Zeit , exakt zum Frühlingsanfang 1912. Mit welcher Art von Wesen aber haben wir es hier genau zu tun, das sich beim Abschied von Combray in den Weißdorn wirft? Ist vom olfaktorischen Charakter der Weißdornblüten die Rede, reichen die Beschreibungen von ›Heringslake‹ bis ›Aasgeruch‹, und jeder Pflanzenführer beeilt sich anzufügen, solche Aromen übten eine besondere Anziehungskraft auf Bienen aus – Marcel, der Erzähler, spricht durchweg von »Duft«. Will er die Blüten nur betrachten, ihren »Duft« einsaugen, oder bestäubt er sie, da er sich in die Hecke wirft? Kein Kind, meint man, sondern eher ein Insekt, das sich – am Morgen frisch frisiert und mit einem neuen Hut bekleidet – dagegen sperrt, zu einem Menschen gemacht zu werden. Da trampelt er beim Weißdorn wütend auf seinen Lockenwicklern herum. Merkwürdige Koinzidenz, wo doch bis heute Lockenwickler bei Imkern ein beliebter Weiselkäfig sind, um eine neu ins Volk gebrachte Königin dagegen zu schützen, dass die zukünftigen Untertanen ihr an den Beinen nagen.
Ein wenig später dann Ossip Mandelstam, der sich mit der bald verzweifelten Beschwörung solitär lebender Bienen gegen das übermächtige Bild der staatenbildenden Bienen zur Wehr setzt, wie es die Sowjetunion propagiert. Die Unterordnung des Individuums im Kollektiv als Naturgesetz betrachtet – im ZK hat man seinen Vergil offenbar eher flüchtig gelesen. In dieser Situation beschwört Mandelstam mit den Dichterbienen zugleich das Europa der Antike herauf: »Aus meinen Händen, dich zu freuen, nimm / ein wenig Sonne und ein wenig Honig: dies / ist, was
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