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Erstens kommt es anders ... (German Edition)

Erstens kommt es anders ... (German Edition)

Titel: Erstens kommt es anders ... (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kera Jung
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Grace alle Erwartungen. Gesagt hätte er es nie, es wäre seinem Vater und Berta gegenüber nicht fair gewesen. Doch der Tag, an dem die alternde Sekretärin in Pension gegangen war, erwies sich als sein persönlicher Glückstag – rein geschäftlich gesehen.
    Denn damit hatte Berta Miss Stephanie Grace den Platz freigemacht.
    Seit fünf Äonen fester Bestandteil der Kanzlei hatte Michael jene übergewichtige Dame vor zehn Jahren von seinem Dad – Victor Rogers - geerbt. Chancenlos, an den vorherrschenden Sitten etwas zu ändern, hatte er den Versuch gleich ganz gelassen. Erst, als die Matrone ging und Miss Grace kam, ahnte er, was den Unterschied zwischen einer Sekretärin der alten Schule und einer jungen Assistentin ausmachte.
    Abgesehen vom visuellen Vorteil, versteht sich.
    Sekretärinnen erfüllen exakt ausformulierte Aufträge, auch noch nach einer gefühlten Betriebszugehörigkeit von 120 Jahren. Assistentinnen erfassen die zu erledigenden Aufgaben selbstständig und arbeiten sie ohne Aufforderung ab.
    Längst hatten die widerlich gelben Aktennotizen ihre Daseinsberechtigung verloren. Auch musste er nicht mehr kontrollieren, ob die juristischen Begriffe korrekt angewendet, an die Fristen bei Gericht erinnert oder die Mandanten rechtzeitig angeschrieben wurden, wenn sich ein Fristablauf abzeichnete.
    Stephanie Grace war ein unschätzbarer Gewinn für seine Kanzlei, ganz klar. Selbst seinem alten Herrn war das nicht verborgen geblieben. Der hatte ihn nämlich offiziell für den Neuzuwachs beglückwünscht.
    Genial!
    Warum also fühlte Michael diese widerliche Frustration? ... Frustriert – ja, das beschrieb seine Verfassung so ziemlich genau, und zwar mit steigender Tendenz. In der Hoffnung auf Erleuchtung betrachtete er ihren gesenkten Kopf. Vom Gesicht konnte er nur die bleiche Stirn sehen, während sie unermüdlich den Stift über das Papier gleiten ließ.
    In einem Anfall von akuter Rebellion hatte er vor einigen Wochen beschlossen, die unverwüstlichen, seit ungefähr dreitausend Jahren bestehenden Zustände in diesem Büro zu ändern. Er wollte technisch aufrüsten, es mit einem Gewaltschlag aus der Steinzeit in die Moderne katapultieren. Der Kauf eines Diktiergerätes war angedacht und eines modernen Telefons, um endlich diese blödsinnige Gesprächsvermittlung zu erden. Ein Kopierer sollte her und modernere Computer.
    So lautete in etwa der Plan, und Michael hatte sich bereits intensiv mit dessen Umsetzung beschäftigt.
    Dann kam sie …
    … und er entschied kurzfristig, doch kein Diktiergerät zu benötigen. Was seit mehr als vierzig Jahren funktionierte, konnte mit einem Mal nicht völlig widersinnig geworden sein, oder?
    Und so saß er täglich mit ihr zusammen, diktierte seine Briefe und betrachtete das dichte, helle, jedoch keineswegs grelle Haar und den blassen Stirnansatz, der immer leicht gerunzelt daher kam. Unbegreiflich, wie eine Person so unglaublich schlank sein konnte. Mühelos hätte er ihre Taille mit einer Hand umfassen können.
    Sein Blick fiel auf die schlanken, hellen, makellosen Finger. Sie war ein graziles Persönchen, das immer schmaler zu werden schien. Die Haut an ihren zerbrechlichen Handgelenken wirkte so blass, dass sich die Adern darunter bläulich abzeichneten. Möglicherweise hatte sie private Probleme oder litt unter Schlafstörungen. Denn neuerdings existierten da auch immer diese Schatten unter den dunkelblauen Augen. Manchmal sah er sie, wenn sie sich dazu herabließ, ihn anzusehen.
    Wie jetzt zum Beispiel, als sie mit diesem ekelhaft höflichen Lächeln. Blaue, große, sehnsüchtige Augen musterten ihn fragend.
    Sehnsüchtig … Ja, sicher! Komm zu dir, du Idiot! Eilig räusperte er sich. »Wiederholen Sie bitte den letzten Satz!«
    Das Lächeln erstarb und ihr Gesichtsausdruck wurde wachsam. Hastig senkte sie den Kopf und kurz darauf ertönte ihre verhaltene Stimme.
    »Unter Bezugnahme unseres Schreibens vom ...«
    Kaum merklich war der November in den Dezember übergegangen.
    Der kalte Herbstregen wurde vom ersten Schnee abgelöst, der sich in diesem Jahr erstaunlich früh über die triste, im Winterschlaf befindliche Natur legte. Und mit ihm hielt auch die Kälte Einzug. Massiver als in den meisten vergangenen Jahren. Was die Wetterfrösche bereits seit Wochen ankündigten, schien auch tatsächlich einzutreffen: der kältesten Winter seit über fünfzig Jahren.
    In der Anwaltskanzlei Rogers machte sich derweil Routine breit.
    Morgens um acht betrat sie das

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