Erstens kommt es anders ... (German Edition)
gehofft hatte, diese elenden Brötchen mit Instantbrühe endlich hinter sich lassen zu können. Dennoch gelang es ihr nie, mehr als zwanzig Dollar in ihren Sarg - und - Sonstiges - Fond zu legen.
Verdammt!
An eine Benutzung der Heizung war nicht zu denken.
Einen Ausweg sah sie nicht. Wie sollte sie Mr. Rogers denn begreiflich machen, dass sie mit ihrem Gehalt nicht auskam, ohne ihn über ihre niederschmetternde Gesamtlage aufzuklären? Außerdem konnte sie wohl kaum deshalb Rücksicht von ihm verlangen oder vielleicht sogar die dringend erforderliche Gehaltserhöhung. Bisher hatte sie schließlich nicht einmal die Probezeit überstanden. Nein, zu ihrem Chef durfte sie nicht gehen und eine andere Möglichkeit existierte nicht.
Irgendwann zwang Stevie sich, positiv zu denken. Verzweifeln half ja auch nicht weiter. Schon vor Jahren hatte sie sich das abgewöhnt. Dessen ungeachtet wusste sie nicht, wie sie ihrer Familie ein Weihnachtsfest bereiten sollte, ohne den Sarg - und - Sonstiges - Fond anzugreifen – wieder.
Was für Stevie die weitaus größere Katastrophe darstellte, denn sie hasste Inkonsequenz. Aber konnte sie Vanessa und Bianca zu allem Übrigen auch noch verdorbene Feiertage zumuten? Nein, dazu fehlte ihr die erforderliche Abgebrühtheit. Auch wenn die beiden nicht müde wurden, ihr genau die unermüdlich zu attestieren.
Die nächste Woche verging, ohne dass Stevie eine Lösung für ihr Dilemma einfiel. Und als sie am dreiundzwanzigsten Dezember mittags reichlich demoralisiert das Büro betrat, stand ihr Entschluss fest:
Erneut würde sie gegen ihre Prinzipien verstoßen, auch wenn es noch so wehtat. Niedergeschlagen setzte sie sich hinter ihren Schreibtisch, Mr. Rogers hatte sich bereits am späten Vormittag in den Weihnachtsurlaub verabschiedet, daher war sie wenigstens mit ihrer miesen Stimmung allein. In einer müden Geste rieb sie sich die Lider, sah irgendwann auf und erblickte erst jetzt den Briefumschlag mit ihrem Namen, der an dem Uralt-Telefon lehnte.
Ihre Augen wurden groß, als sie darin eine druckfrische Einhundertdollarnote fand. Auf dem beigefügten Kärtchen stand:
Sehr geehrte Miss Grace!
Die Rettung!
Zum ersten Mal, seitdem sie in diesen edlen Räumen tätig war, achtete Stevie peinlich genau auf die Uhr und verließ nach exakt zehn Stunden Arbeitszeit das Büro. Selig stürzte sie in das nächstbeste Einkaufscenter und unternahm endlich ihre Weihnachtseinkäufe.
Es wurde ein schönes Fest.
Vanessa bekam einen dicken Winterpullover, der jedoch nach einem flüchtigen Blick achtlos beiseitegelegt wurde. Bianca gefiel die neue, gefütterte Jacke schon eher, doch Begeisterung ließ sich auch hier nicht blicken.
Stevie sah es ihnen geduldig wie immer nach. Wie sollten sie auch reagieren, wo bisher Bestandteil einer jeden Bescherung teurer Schmuck und Luxuswagen gewesen waren? Bereits lange zuvor hatte Stevie verstanden, dass sie sich mit der gravierenden Veränderung ihrer Lebenssituation bedeutend leichter arrangieren konnte, als ihre Mutter und Schwester.
Mit beachtlich mehr Euphorie wurde da schon der riesige Truthahn aufgenommen, den sie am Weihnachtstag auftischte. Und am Abend, bei heißem Punsch und ‚Das Leben ist schön‘ , verschwanden endlich der weinerliche Zug um Biancas Mund und der verbitterte um Vanessas.
Stevie schöpfte neue Hoffnung.
Vielleicht würden sich die beiden irgendwann doch noch mit ihrem neuen Leben abfinden können.
Das neue Jahr empfing sie mit jenem grimmigen Frost, mit dem das alte geendet hatte. Stevie machte die wenig ermutigende Erfahrung, dass Fenster nicht nur von außen, sondern auch von innen mehr oder weniger zufrieren konnten.
Mit einiger Überwindung kaufte sie sich Stiefel. Die 40,00 $ verbuchte sie unter lebenserhaltende Maßnahmen. Möglicherweise klang das in unwissenden Ohren übertrieben, aber ihrer Ansicht nach war es sogar erschreckend treffend formuliert.
Inzwischen aß sie morgens, und ihr Repertoire an Gerichten gestaltete sich etwas reichhaltiger. Zu der Instantbrühe hatte sich dieser synthetische und immer sehr preiswerte Kartoffelbrei aus dem Supermarkt gesellt und hin und wieder eine Milchspeise. Gleich drei Mahlzeiten standen hierbei zur Auswahl:
Milchreis, Grieß, Pudding.
Nach sechs Wochen Brühe, die nur flüchtig von Truthahn abgewechselt worden war, erschien ihr das wie der Himmel. Die Mittagspause verbrachte Stevie nicht länger auf ihrer Bank, ihre erfrorenen Füße zeigten sich dafür ehrlich dankbar.
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