Ertränkt alle Hunde
Ich sehe nicht, was darauf ist.«
»Das sollten Sie aber, Sie haben es schon eine Million mal gesehen. Denken Sie zurück an die Zeit, als ich noch die Sopranstimme in Ihrem Chor gesungen habe und Sie noch gesund waren. Und wie Sie immer meine Mutter und mich besucht haben - und auch Ihren Freund Liam, jedesmal, wenn er in der Stadt war. Besonders dann...«
Ich unterbrach mich, als mir bewußt wurde, daß ich mich mehr wie ein Cop und nicht wie ein Freund anhörte; außerdem bemerkte ich, daß es mir nichts ausmachte. Zum kahlen, gesenkten Schädel des Priesters sagte ich: »Denken Sie an das Foto, das immer auf dem Radio in unserem Wohnzimmer stand. Erinnern Sie sich, Father? Und ist es nicht genau dieses Foto, das Sie jetzt beunruhigt?«
Father Tim sagte nichts. Endlose Sekunden lang schaute er nicht einmal auf. Als er es dann schließlich tat, war sein Gesicht so ausdruckslos und verschlossen wie in der Kirche nach seinem Bittgebet an den heiligen Judas.
»Ich war gestern im Kino, Neil«, sagte er mit einem verträumten Klang in seinen Worten. »Wir haben ein erstklassiges Programmkino oben in Riverdale, mußt du wissen. Dorthin bin ich gegangen. Sie haben John Hustons Schach dem Teufel von 1954 gezeigt.«
»Toller Titel für einen Priester.«
»Oh, aber es ist ein wunderbarer Film. Bogart spielt mit, und Gina Lollobrigida und Robert Morley und Peter Lorre. Truman Capote hat das Drehbuch geschrieben, woran sich heute nicht mehr besonders viele Menschen erinnern. Er hat diesen großartigen Text über die Zeit geschrieben, den Lorre spricht. Ungefähr so: >Zeit - was ist schon Zeit? Die Schweizer stellen sie her, die Franzosen horten sie, die Italiener vertun sie... Die Amerikaner sagen, sie sei Geld.<« Father Tim seufzte. »Und möchtest du wissen, was die Zeit meiner Meinung nach ist, Neil?« Ich zuckte mit den Achseln. Im Augenblick schien mir das nicht wichtig zu sein.
»Die Zeit ist ein Vandale«, sagte der bekümmerte Priester.
Jetzt starrte ich ihn ausdruckslos an. Und sagte: »Auf der Rückseite des Fotos steht ein Gedicht, Father. Möchten Sie, daß ich es Ihnen vorlese?«
»Nein!« Tränen waren in Father Tims Augen gestiegen, und er legte eine Hand auf sein Herz. Ich vermehrte seine Kümmernisse nur noch, was auch immer es nun war.
»Tut mir leid, Father...«
Aber tat es mir wirklich leid?
»Du siehst jetzt, wieso sie den alten Tim Kelly in den Ruhestand geschickt haben«, sagte er und wischte sich mit einer Serviette übers Gesicht. Er erhob sich steif. Die schwarze Weste war auf seinem weichen Bauch hochgerutscht, und jetzt strich er sie glatt, knöpfte dann die Jacke zu und mühte sich ab, wieder etwas Würde in seine Stimme zu bekommen. »Ich kehre jetzt in das Heim für uns verbrauchte Priester zurück. Und wenn du meinen Dank annimmst, Neil, der Kaffee geht auf dich.«
»Warten Sie.« Ich stand auf und legte Geld auf den Tisch. »Wie kommen Sie zurück nach Riverdale?«
»Mit der U-Bahn, genauso wie ich auch runtergekommen bin. Ich habe es mit dem Armutsgelübde zu ganz schön was gebracht.«
Wir gingen auf die Straße hinaus, wobei sich Father Tim unsicher auf meinem Arm abstützte. In überraschender Eile wünschte er mir dann alles Gute für die Reise und auch für Ruby, von der er sagte: »Es ist besser, wenn ein Mann mit einer Frau zusammen ist, aber am besten ist es, wenn er mit ihr verheiratet ist, mein Sohn.« Aber über seinen alten Freund Liam verlor er kein Wort.
An der Tenth Avenue winkte ich ein Taxi heran und verfrachtete Father Tim gegen seinen milden Protest hinein. Dem Fahrer gab ich dreißig Dollar, der daraufhin meckerte, den ganzen weiten Weg rauf in die Bronx fahren zu müssen und dort oben wahrscheinlich keine Fuhre zurück nach Midtown zu finden. Also zeigte ich ihm meine Dienstmarke und meine Handschellen und erinnerte ihn ebenso an meine ausgesprochen großzügig bemessene Vorauszahlung wie auch an die Gesetze der City of New York, öffentliche Verkehrsmittel betreffend. Er stellte sein Gezeter umgehend ein.
Father Tim kurbelte im Fond eine Scheibe herunter und sagte zum Fahrer: »Warten Sie noch einen Moment, mein Sohn.« Dann griff er in seine Tasche, die, in der sich auch der Rosenkranz befand, und zog ein Medaillon heraus, das ungefähr die Größe eines Silberdollars hatte. Das gab er mir.
»Du wirst feststellen, daß es in Irland so viele Widrigkeiten und Regenstürme gibt, daß selbst Jesus Christus persönlich einen Schirm brauchte«, sagte er. Er
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