Erwacht
Glas gestanden hatte. Stattdessen lag dort nun ein silberner Dolch.
»Wenn die Gestalt erscheint«, fuhr er fort, »dann gib ihr ein Gesicht und erstich sie mit einem tödlichen Stoß.«
»Ich muss jemanden töten?« Ist er wahnsinnig?
»Das ist nur ein kleines Detail. Eigentlich ist es nur vorgetäuscht – betrachte es als ein Spiel. Natürlich kannst du auch hier bei mir bleiben, wenn du das möchtest.« Er amüsierte sich. Er ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken und betrachtete den Himmel.
Ich streckte die Hand aus, sie bebte. Einen Finger nach dem anderen schlang ich um den Dolch, dann hielt ich ihn hoch. Der kalte Stahl reagierte mit Wärme auf meine Berührung, als würde er mich erkennen. Ein Schauer rieselte mir über den Rücken und ich zuckte zurück. Der Tisch verschwand und vor mir stand eine Gestalt. Weder Mann noch Frau; eine leere Leinwand, nur eine Silhouette.
Nox hatte gesagt, dass ich ihr ein Gesicht verleihen müsste. Ich fragte mich, ob es jemanden gab, den ich umbringen wollte … Dann stand er vor mir. Meine Hände zitterten vor schierer Angst und Adrenalin.
»Können Sie sprechen?«, fragte ich ihn. Meine Stimme bebte. Ich merkte, dass ich weinte. Er sagte nichts, blieb ruhig, betrachtete mich.
Ich blickte in Nox’ Richtung; er lag noch immer lässig zurückgelehnt in seinem Liegestuhl.
»Gibt es eine andere Möglichkeit?« rief ich ihm zu.
»Keine, die dir gefallen wird«, war alles, was er sagte.
Das war es also. Das musste ich tun, um zurückzukehren. Um ein Grigori zu werden, um meine Kräfte zu erhalten, um Lincoln zu heilen, um zu Phoenix zurückzukehren. Ich umklammerte den Dolch fester, er wog schwer in meiner Hand.
Ich musste den Mann erstechen, der einen Teil meiner Welt zerstört, mir einen Teil meiner Unschuld, meines Vertrauens geraubt hatte, der mich und Gott weiß wie viele andere Mädchen missbraucht hatte. Ich machte ein paar Schritte auf ihn zu, auf den Lehrer, vor dem ich mich mehr als vor allem anderen gefürchtet hatte. Bis heute. Bis zu diesen Prüfungen, bis ich wusste, dass Lincoln vielleicht sterben würde, bis ich wusste, dass ich vielleicht sterben würde. Ich starrte ihn an und brauchte keinen weiteren Grund mehr. Auch wenn viele andere Kräfte in meinem Leben sich anstrengten, mich zu zerstören, war er der Erste gewesen, der das perfekte Prisma meines Lebens zertrümmert hatte. Ich riss meine Hand zurück, um auszuholen; ich wollte das nur einmal tun müssen. Aber als ich dann die Augen schloss, fand ich mich selbst. Ein Moment schlichter Klarheit nahm mich ganz in Anspruch und meine Entscheidung änderte sich und war gefällt. Ich öffnete die Augen, senkte den Dolch in den Bauch und zog ihn nach oben zum Herzen, so wie ich es bei Griffin gesehen hatte. Erst dann erlaubte ich mir selbst, die ganze Szene in mich aufzunehmen, meinen Blick zu heben und den meines Opfers zu treffen.
Ich starrte mich selbst an.
Ich würde mich ein anderes Mal fragen, ob es Stärke oder Schwäche war, die mich dazu bewogen hatte, dem Opfer ein anderes Gesicht zu geben.
Ich hörte, wie Nox kicherte. »Ein neues Kapitel hat also begonnen.«
Blut ergoss sich auf meine Hände, als ich einmal mehr in mir selbst nach einem Anker suchte und das schwache Schlagen eines Herzens hörte. Dieses Mal war ich mir jedoch nicht sicher, wessen Herz da verzweifelt um sein Leben schlug. Vielleicht war es schon immer der Klang meines eigenen verklingenden Herzens gewesen, den ich gehört hatte.
Ich sah nichts mehr und die Dunkelheit verschluckte mich, ein williges Opfer.
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
»Was war ich einst, was bin ich nun geworden …«
SYMEON
M ein Kopf rollte zur einen Seite. Dann zur anderen.
»Violet. Violet! Wach auf!«
Jemand sprach. Worte. Ich konnte Worte hören. Mein Verstand kicherte mir zu, als ich mich anstrengte, sie noch einmal zu hören, aber das Nichts lullte mich wieder ein, zufrieden mit der Stille.
Bam!
Mein Kopf schnellte nach einem harten, schnellen Aufprall zur Seite.
»Violet – wach auf, verdammt! Mach die Augen auf!« Diese Stimme wieder. Augen? Meine Augen? Oh … Ich öffnete sie ein wenig.
»Ich bin es, Phoenix.«
Phoenix? Mein Blick wurde klarer und ich sah sein perfektes Gesicht, umgeben von seinem Opal-Haar, auf mich herabschauen.
»Phoenix, du siehst aus wie ein Engel.« Meine Stimme klang rau.
»Bist du okay?« Er klopfte mich ab, um nach Wunden zu suchen.
Ich checkte das Inventar. Beine und Arme funktionierten noch. Das
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