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Erwacht

Erwacht

Titel: Erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Shirvington
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meines Löwen, denn ich wusste, dass er in jeder Hinsicht mein Löwe war, eine Erweiterung meiner selbst.
    Der Löwe beobachtete mich eine Ewigkeit, wie es mir vorkam; er studierte mich mit einem Interesse, das kein normaler Löwe zeigen würde. Wie gelähmt starrte ich ihn weiter an und beobachtete, wie sich sein Schwanz wieder hin und her bewegte und eine leichte Brise verursachte, die mir über das Gesicht strich.
    Es war die Brise des Lebens. Ich schloss die Augen und holte Luft, wobei ich versuchte, jedes kleinste bisschen davon einzuatmen. Als ich sie wieder öffnete, umgab ein lebendiger Wind wie ein Tornado den Löwen, er wirbelte um ihn herum, ließ den Sand höher und höher steigen, bis ich den Löwen nicht mehr sehen konnte. Unfähig, mich auf den Beinen zu halten, ging ich in die Knie und glitt zu Boden, bis ich auf dem Rücken lag.
    Eine neue Staubschicht bedeckte die Umgebung, bedeckte mich. Ich dachte an Lincoln, hörte das schwache Da-dum, Da-dum, Da-dum eines angestrengten Herzens, seines Herzens. Erschöpft rappelte ich mich auf meine Knie auf, versuchte aufzustehen, scheiterte jedoch. Ich blieb auf den Knien, während Sand auf mich herabregnete.
    Schließlich zwang ich meine Füße, sich anzustrengen, mein Gewicht zu halten. Ich schob mich vorwärts. Einen Schritt, zwei Schritte. Ich ging geradewegs in den Tornado, um dem Löwen zu begegnen, und da wusste ich, dass meine Tugend darin bestand, niemals meiner Schwäche nachzugeben. Sand peitschte mir durch das Gesicht. Ich schrie – nicht wegen des brennenden Schmerzes, sondern wegen der eisigen Erkenntnis, dass meine Tugend auch mein Laster sein würde. Ich würde ihn niemals aufgeben.
    Im Zentrum war es ruhig – und der Löwe war weit und breit nicht zu sehen. Ich staunte, als ich versuchte zu verstehen, was ich sah. Ich stand vor einem Wasserbecken. Ich fiel auf die Knie und griff danach, fürchtete, dass auch dies eine Halluzination war, eine grausame Illusion. Kühles Wasser bedeckte meine Hände, und als ich sie zum Mund führte, kam das Wasser mit ihnen. Ich hätte vor Freude geweint, wenn ich nicht so mit Trinken – unterbrochen von Hustenanfällen – beschäftigt gewesen wäre.
    Das dritte Mal, als ich meine Hände in das Wasser tauchte, wickelte es sich um meine Hände und zog mich hinein wie Treibsand. Es gab nichts, was ich dagegen tun konnte, außer meinen Atem anzuhalten, als ich in das Becken stürzte und sank. Es schien vorschnell, den unvermeidbaren Tod zu akzeptieren. Ich hatte den Verdacht, dass der Tod der einfachere Ausgang wäre, und deshalb war er auch nirgends zu sehen.
    Dutzende Spiegelbilder umgaben mich, Bilder … meiner selbst. Aus unterschiedlichen Phasen, verschiedenen Momenten meines Lebens. An manche erinnerte ich mich, andere schienen aus den Erinnerungen anderer Leute zu stammen. Ich konnte mich selbst durch die Augen anderer sehen. Diese anderen sah ich auch – meine Mutter, meinen Vater, Steph, Lincoln – und ich sah Leute, die mich verletzt hatten, den Raufbold aus der Grundschule, den schrecklichen Ballettlehrer, die Mädelsriege aus meiner alten Schule, die das Talent hatte, mir immer das Gefühl zu geben, weniger wert zu sein. Und schließlich den Lehrer, der sich an mir vergriffen hatte. Er tauchte immer wieder auf und verhöhnte mich, wie die verdunkelten Zerrspiegel in einem Spiegelkabinett. Die alte Angst, die ich so gut kannte, kam zurück und ich war wütend darüber, dass sie jederzeit in mein Leben platzen konnte, selbst in diesem Augenblick.
    Meine Lungen brannten vor Sauerstoffmangel, mein Blick verschwamm, ich konnte nicht länger durchhalten. Ich war am Ende. Ich schloss die Augen. Alle Bewegungen hielten an. Das Wasser beruhigte sich, und als ich es nicht länger aushalten konnte, holte ich Luft … warme, feuchte Luft.

KAPITEL SIEBENUNDDZWANZIG
    »Du erinnerst mich,
bestimmst mich,
manipulierst mich.
Wenn du stürbest,
stürbe ich.«
    LEMN SISSAY
     
    I ch landete auf etwas Hartem. Meine Augen öffneten sich abrupt, während ich weiterhin scharfe, brennende Atemzüge einsog. Winzige Wassertröpfchen befeuchteten mein Gesicht. Halb saß ich, halb lag ich auf dem hölzernen Lattenrost eines … Liegestuhls?
    Dunkle, unheilvolle Nacht umgab mich. Ich blinzelte, um mich dem schwachen Licht anzupassen. War ich ohnmächtig geworden? Wie war ich hierhergekommen?
    Langsam wurde meine Umgebung sichtbar. Zu meiner Rechten stand ein Edelstahltisch. Darauf ein Glas Wasser. Ein leichter Regen fiel.

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