Erwacht
noch während er das Wort wiederholte. »Okay.«
Er ging zur Tür, und seine nächsten Worte sagte er gerade laut genug, dass ich es hören konnte. »Aber wir wissen beide, dass du dich selbst belügst.«
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
»So achte darauf,
dass das Licht in dir nicht Finsternis ist.«
LUKAS 11, 35
» E ngel!«, sagte Steph und hüpfte praktisch auf ihrem Stuhl auf und ab. »Das gibt’s nicht! Warte, das kann einfach nicht wahr sein…«
Wir saßen im Food-Court des Einkaufszentrums. Es war ein strategischer Schachzug meinerseits, sie an einen Ort zu bringen, an dem sie sich wohlfühlte.
Nach der Prüfung schien das, was mich davon abgehalten hatte, Steph und Dad von der ganzen Grigori-Sache zu erzählen, sich in Nichts aufzulösen. Was – oder wer – auch immer sich da eingemischt hatte, hatte damit aufgehört. Ich hatte mich entschieden, es Steph zu erzählen, und hoffte, dass ich mich dadurch wappnen könnte, es Dad zu erzählen … eines Tages.
Zuerst hatte Steph gelacht. Sie dachte, es wäre ein raffinierter Witz. Erst als ich meine Ärmel nach oben zog und meine Arme auf den Tisch legte, fing sie an, mich ernst zu nehmen. Das plötzliche Auftauchen von Malen auf meinen Handgelenken, die sich bei näherer Betrachtung als so unmenschlich erwiesen, dass nur eine außergewöhnliche Erklärung akzeptabel war, ließ sie für einen Moment stutzen. Nachdem sie sich wieder davon erholt hatte und ich bei unserer Freundschaft geschworen hatte, dass es wahr war, bestritt sie den Rest der Unterhaltung so ziemlich alleine, stellte eine Million Fragen und untersuchte ehrfürchtig meine Handgelenk-Male. Es war eine Erleichterung, wieder bei ihr zu sein und der Intensität zu entkommen, die jetzt fast jede Facette meines Lebens umgab. Ein Hauch von Alltäglichkeit, den ich dringend brauchte.
»Also, verstehe ich das richtig …«, sagte sie zum hundertsten Mal. »Du bist teilweise ein Engel und jetzt hast du Kräfte und kannst Leute heilen ?«
»Ich kann nur Lincoln heilen.« Ich sah mich um. Jugendliche in unserem Alter liefen herum, völlig ohne Sorgen. Na ja, das stimmte vielleicht nicht ganz – ein Teenager zu sein ist meistens hart –, aber ich wäre jede Wette eingegangen, dass nicht viele von ihnen sich mit so etwas herumschlagen mussten wie ich.
»Weil er der für dich bestimmte Partner ist«, ergänzte Steph. Als wir uns hingesetzt hatten, hatte sie ihren Eiskaffee geschlürft und die Kugel Eiscreme, die darauf schwamm, mit ihrem Strohhalm attackiert. Aber nun stand er unberührt da; Steph war bis zur Stuhlkante vorgerückt und starrte mich aus großen Augen an, ohne zu blinzeln.
»Genau.«
»Heilige Scheiße, Vi! Wenn du mich verarschen willst, dann sag es besser gleich! Du erzählst mir, du warst auf einer Art mystischer Suche und bist einem guten und einem bösen Engel begegnet?«
»Es ist ein bisschen komplizierter als das, aber so ähnlich … ja.«
»Lieber Gott.«
»Nein. Der war nicht da«, witzelte ich in dem Versuch, die Stimmung ein wenig aufzulockern. Ich wusste nicht, ob ich das ihr zuliebe oder mir zuliebe tat. Ich konnte kaum glauben, dass sie bisher alles so gut aufgenommen hatte.
»Du kommst mir jetzt aber nicht auf die religiöse Tour, oder? Wenn du mir jetzt noch sagst, dass du in die Sonntagsschule gehst, glaube ich nicht, dass ich damit zurechtkomme.«
»Glaub mir. Die Kirche ist ziemlich weit unten auf meiner Liste der zu besuchenden Orte.«
»Aber du wirst eine Grigori werden?«
»Schon passiert. Da führt kein Weg mehr zurück.« Ich versuchte so zu klingen, als würde ich über all dem stehen, aber Steph spürte meine Trauer.
»Vi, ich kann nicht fassen, dass du das alles ganz allein durchgestanden hast. Ich fühle mich irgendwie beschissen, weil du es mir nicht früher gesagt hast, aber andererseits verstehe ich es auch. Das kriegen wir schon hin. Klar, es handelt sich nicht gerade um ein Alltagsproblem, aber das heißt nicht, dass du dein bisheriges Leben aufgeben musst.«
»Ich kann nicht einfach so tun, als wäre ich normal, so sehr ich das auch möchte.« Ich krempelte meine Ärmel herunter, um das nun dauerhafte Andenken auf meinen Handgelenken zu verstecken. Steph betrachtete die Male von einem kosmetischen Standpunkt und fand sie fantastisch. Sie waren tatsächlich schön. Noch schöner wären sie allerdings, wenn ich sie abnehmen könnte.
Sie lächelte mitfühlend. »Du bist immer noch du, Vi. Ich weiß, das alles muss im Moment total verrückt
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