Erwacht
Unwilligen treibt das Schicksal.«
SENECA
» V iolet«, sagte Griffin, »ich muss Lincoln die Leichen zeigen. Er könnte etwas entdecken, was mir entgangen ist. Wenn es dir nichts ausmacht, kannst du hier warten.«
Was ich hätte sagen sollen, war: Klar, ich warte hier auf euch. Was ich dummerweise sagte, war: »Ich will sie auch sehen. Wenn das dazugehört, wenn man ein Grigori ist, dann finde ich, dass ich das Recht habe, es zu sehen.«
Griffin lief los in seinen staubigen schwarzen Stiefeln und gab mir dabei ein Zeichen, mitzukommen. »Ich sag es ganz deutlich – zwei von ihnen wurden mit schierer Brutalität ermordet, der andere durch … etwas noch Schlimmeres. Nichts davon ist in irgendeiner Weise friedlich.«
Ich nickte und fragte mich, was noch schlimmer sein könnte als schiere Brutalität. Wir gingen auf Magda und die anderen Grigori zu. Keine Polizisten oder Spurensicherer waren dort, kein gestreiftes Polizeiband, nichts, was den Tatort kennzeichnete.
»Werdet ihr das der Polizei melden?«, fragte ich Lincoln.
Er schaute mich traurig an. »Nein. Es ist zu gefährlich, normale Menschen in all das zu verwickeln. Außerdem ist es unmöglich, die Verletzungen zu erklären, ohne Verdacht zu erregen. Wir haben Leute, die in der Regel ein anderes Szenario vortäuschen, das die Behörden zwar auf die Toten aufmerksam macht, aber die Umstände verschleiert.«
»Wie zum Beispiel?« Ich war entsetzt, verstand es aber seltsamerweise.
»Ganz unterschiedlich – Autounfälle, Brände, so was in der Art.«
»Himmel«, sagte ich. Mir wurde bewusst, dass er lauter Unfallszenarien erwähnte, die wirklich ein Blutbad zur Folge hatten.
Als wir uns dem Tatort näherten, spürte ich ein kleines Summen, das in mir vibrierte. Ich versuchte, es unter Kontrolle zu halten. Im Rückblick lässt sich sagen, dass dies ein guter Moment gewesen wäre, sich aus dem Staub zu machen. Hinterher ist man immer schlauer.
Ich sah die erste Leiche und entspannte mich vorschnell. Es war schlimm, aber nicht entsetzlich, nur ein regloser Körper. Dann fiel mein Blick auf die anderen beiden Opfer und meine Hand flog zu meinem Mund. Ich wollte mich übergeben. Beide waren Frauen; jung, schön und nackt. Sie verströmten bereits einen starken Geruch, eine Mischung aus rohem Fleisch und salzigem Blut, das in der Hitze trocknete. Ich presste die Hand noch fester auf meinen Mund, als ich die Löcher in ihrem Bauch sah. Neben ihnen lag ein Haufen …Organe, glaube ich. Als wären sie von einer Hand aufgerissen worden, die das Innere herausgezogen und einfach neben die leeren Leichen geschmissen hatte. Es war monströs, eine Szene äußerster Zerstörungswut.
Ich schlang die Arme um meinen Bauch und versuchte, das absolut beängstigende Gefühl zu ignorieren, das in mir aufkam und an jeder einzelnen Faser meines Seins rüttelte – pure Lust. Wer auch immer, was auch immer dies getan hatte, hatte dabei äußerste Wonne empfunden. Und ich konnte es auch empfinden.
Verzweifelt versuchte ich, den Blick abzuwenden, und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den anderen Leichnam. Dieses Mal sah ich ihn wirklich . Ich hatte schon davon gehört, dass das Gehirn einen Menschen davor bewahren kann, Dinge zu verarbeiten, die zu verstörend für ihn sind. Der Mann, der noch angezogen und einigermaßen unberührt war, lag in einem Zustand der Leere da, nicht so, als wäre er tot, sondern als wäre er verloren.
Tote sollten eigentlich so aussehen, als hätte sie ihre letzte Ruhe gefunden, aber ich wusste jetzt, was Griffin gemeint hatte, als er sagte, wir würden auf nichts Friedliches treffen. Es würde nämlich nichts geben. Ich starrte alle drei entsetzt an, mein Herz weinte um sie. Mir war, als müsste ich ersticken.
Als ich Apfel auf meiner Zungenspitze schmeckte, wusste ich, dass der Rest der Sinneswahrnehmungen folgen würde. Ich stolperte ein paar Schritte und versuchte, wegzulaufen. Vergeblich.
Bilder von Morgen und Abend flimmerten vor meinen Augen, blendeten mich. Es war … brutal. Schmerzhaft. Ich fiel auf die Knie und schrie. Ich hörte Lincoln rufen, aber er erreichte mich nicht. Ich wollte, dass es aufhörte, aber ich schaffte es nicht. Kalte Hitze durchströmte meinen Körper. Ich fühlte mich wie eine starre Statue aus Eis, in deren Innerem ein Vulkan ausbricht. Ich konnte meine Schreie hören. Welten entfernt.
Mein Rücken bog sich, meine Arme fielen nach hinten, baumelten herunter, meine Knöchel schleiften über den
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