Erwacht
Wahrscheinlich war ich ein bisschen zu weit gegangen, aber ich hatte das Gefühl, mich behaupten zu müssen. Das letzte Mal, als er mich gesehen hatte, war ich ein heulendes Elend gewesen. Ich konnte nicht zulassen, dass er glaubte, ich sei ein solches Mädchen.
Lincoln fing an zu lachen. Ich wirbelte herum und sah, wie er den Kopf schüttelte.
»Was?«, fauchte ich ihn an. Auch Griffin wirkte verunsichert.
»Nichts, ich habe Griffin nur noch nie so verdutzt gesehen. Normalerweise kann er die Leute immer schon einschätzen, wenn sie noch Meilen entfernt sind.«
Ich drehte mich wieder zu Griffin um, aber er fing selbst an zu lachen.
Magda schnaubte. »Ist das jetzt wirklich der richtige Ort für solche Scherze, Leute?« Dann stolzierte sie davon.
Ich weiß nicht, ob es ihre Worte oder ihre Haltung waren, die mich zum Lachen brachten, aber wie dem auch sei – einen kurzen Augenblick lang lächelten wir alle.
Lincoln erinnerte sich als Erster wieder daran, weshalb wir gekommen waren. Er runzelte die Stirn und wandte sich an Griffin. »Was ist passiert? Ich dachte, heute Abend sollte es nur um Auskundschaften gehen.«
Ein bedauernder Blick huschte über Griffins Gesicht. Seine Augen sahen müde aus und hatten dunkle Ringe. Es war ihm anzusehen, dass die Verantwortung für die Gruppe schwer auf ihm lastete.
»Sollte es auch. Wir wissen immer noch nicht, was passiert ist. Wie es passieren konnte, dass sie … Es ergibt keinen Sinn, Linc.« Fassungslos schüttelte er den Kopf.
»Wie viele haben wir verloren?«, fragte Lincoln und schaute zum anderen Ende des Werftgebäudes, wo all die anderen Grigori versammelt waren.
Griffin fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Drei. Wir dachten, es könnte vielleicht dieselbe Gruppe sein, die wir verfolgt haben, aber jetzt … sind wir uns da nicht mehr so sicher. Tom ist tot, Linc. Sie waren vorbereitet, organisiert.«
Lincoln erstarrte. Ich wollte ihn trösten, ihm wenigstens die Hand auf die Schulter legen, aber ich hielt mich zurück.
»Warum glaubst du nicht, dass es dieselbe Gruppe war?«, knurrte er. »Sie müssen es gewesen sein! Warum verfolgen wir sie nicht?«
»Weil unsere Leute von Kräften der Lichts und der Finsternis getötet wurden. Wir dachten zuerst, sie wären in ein Scharmützel zwischen den beiden Seiten geraten. Aber es trägt die Handschrift der Verbannten der Finsternis. Es kann sein, dass sie Verbannte des Lichts dazu zwingen, ihnen zu dienen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die eine Seite von der anderen Geiseln nimmt.«
»Könnte es sein, dass sie zusammenarbeiten?«, hakte ich ein.
»Licht und Finsternis? Nein. Sie arbeiten nicht zusammen«, sagte Griffin.
»Warum nehmen sie Geiseln?«, fragte ich.
»Weil ihre Kräfte, wenn sie sie über einen längeren Zeitraum hinweg einsetzen müssen, schwächer werden. Wenn sie andere Verbannte dazu zwingen können, die Drecksarbeit für sie zu machen, steht ihnen immer die volle Kapazität zur Verfügung«, erklärte Lincoln.
Griffin rieb sich wieder das Gesicht. »Ich weiß, es ist schwer zu glauben, Violet, aber Verbannte töten, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Wir verlieren gute Leute.«
»Ich weiß. Ich habe es selbst gesehen.« Ich biss mir auf die Lippe. Zeit für ein Geständnis.
»Was?«, riefen Griffin und Lincoln gleichzeitig.
»Ein Mädchen, das ich kannte. Sie wurde von einem Verbannten getötet.« Meine Augen füllten sich wieder mit Tränen, sobald ich daran dachte, wie Claudia in meine offenen Arme gefallen war. »Er hat ihr das Genick gebrochen, direkt vor meinen Augen.« Ich schaute Lincoln an. »Ihr Name war Claudia. Du hast sie an meinem Geburtstag kennengelernt.«
Er machte einen Schritt auf mich zu und legte mir sanft die Hand unter den Ellbogen. »Was ist passiert? Wie bist du entkommen?«
»Phoenix. Er … hat ihn umgebracht.«
Lincoln und Griffin wechselten einen Blick. Lincoln schaute mich ein paar Momente lang nicht an, aber Griffin lächelte entschuldigend und nickte.
»Du siehst also, es gibt gute Gründe, weshalb wir in unterschiedlichen Reichen leben sollten, die räumlich getrennt sind.«
Ich nickte, weil ich immer besser verstand, dass Verbannte keine richtigen Engel mehr waren. Sie waren fehlgeleitete Egos mit Macht. Und zwar mit unglaublich viel Macht.
In diesem Moment stieg mein Respekt für Griffin … und Lincoln, und vielleicht sogar für meine Mum.
»Verstehe«, sagte ich.
KAPITEL ACHTZEHN
»Den Willigen führt, den
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