Erwarte mich in Paris (German Edition)
Station Étienne Marcel. Das Haus Nummer 52 war ein, für Paris übliches Stadthaus mit großen, bis zum Boden reichenden Fenstern. Schmiedeeiserne Geländer waren davor befestigt. Schwieriger wurde es, als ich die große zweiflüglige Eingangstür und den dahinterliegenden Gang passiert hatte und in einem Hinterhof stand, von dem mehrere Zugänge zu verschiedenen Treppenhäusern abgingen.
Ratlos stand ich mit dem Anzug über dem Arm da und sah die Hausfassade hinauf. Die engen Wände gaben mir ein Gefühl des Eingeschlossenseins. Ob ich mich jemals an Häuser und Zimmer gewöhnen würde? Manchmal fühlte ich mich wie eine Pflanze ohne Sonne. Zwar mit allem versorgt, jedoch matt und anfällig für Krankheiten. Jede freie Minute, die ich von dem straffen Terminplan abzwacken konnte, den mir Tom täglich auferlegte, flüchtete ich an die Seine. Hier setzte ich mich ans befestigte Ufer und starrte auf das träge, dahin fließende Wasser. Wenigstens dieses konnte dorthin, wohin seine Natur es trieb. Auch in mir war dieser Trieb, der mich aufforderte, weiterzuziehen. Das war meine natürliche Art, welche ich momentan jedoch unterdrücken musste. Es hatte sich so viel geändert.
Ich hörte eine Tür ins Schloss fallen und drehte mich um. Schuldbewusst zuckte ich zusammen. Einen kurzen Augenblick hatte ich geglaubt, Tom käme mir entgegen und würde mich wieder beschimpfen, warum ich noch hier herumstände und ihn warten ließ. Doch der junge Mann, mit dem glatten, blonden Haar sah Tom nur zum verwechseln ähnlich. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, lief er an mir vorbei. An seinem Gang und seiner Blasiertheit erkannte ich, dass er sicher dem gleichen Beruf wie Tom nachging. Hier schien ich richtig zu sein. Schnell lief ich auf die Tür zu und hastete die Treppe hinauf. Im zweiten Stock hörte ich hinter einer Tür Stimmengemurmel. Ein silbernes Schild in vornehm, geschwungener Schrift dominierte die halbe Wand. Vorsichtig klopfte ich an. Niemand reagierte, doch die Tür, welche nur angelehnt war, schwang langsam auf. Mit unsicheren Schritten trat ich ein.
In dem weitläufigen Büro herrschte rege Betriebsamkeit. Unmengen von Leuten rannten hin und her, riefen und gestikulierten. Näherinnen steckten Hosen direkt an den Körpern junger Männer ab.
„Du kommst zu spät!“ Eine junge Frau mit dünnem, blondem Haar sprach mich von der Seite an. „Los, beeil dich, stell dich da hin.“
Ohne meine Verwirrung zu bemerken, drängte sie mich gegen eine weiße Wand, zog eine Polaroidkamera hervor und schoss von mir ein Foto. Während sie das Foto hin und her wedelte, musterte sie mich von oben bis unten.
„Wie war noch mal dein Name? Ich erinnere mich gerade nicht an dich.“
„Das wundert mich nicht. Du hast gerade meinen Laufburschen fotografiert, Christin.“ Tom trat heran. „Wird echt Zeit, dass du kommst, Nik. Ich bin schon seit zehn Minuten fertig.“
„Warte mal“, Christin wies auf mich. „Der da ist gar kein Model?“
„Sieht er so aus? Schau dich um, Christin. Alain hat dieses Mal offensichtlich sein Augenmerk auf blonde, nordische Typen gelegt. Und jetzt schau dir unseren Freund hier an, er ist doch das genaue Gegenteil.“ Er umfasste meine Schulter und drehte mich zu ihr um. Als ihre Augen mich von oben bis unten musterten, glaubte ich um einige Zentimeter zu schrumpfen.
„Okay, ich dachte nur … Alain hatte irgendwann so ne Bemerkung von Gegensätzen und Kontrasten von sich gegeben …“
„Christin, mach das, wofür du angestellt bist – ankleiden – und versuche nicht zu denken.“
Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie die junge Frau bis unter die Haarspitzen rot anlief. Tom drehte ihr einfach den Rücken zu.
„Hast du alles dabei?“, fuhr er mich an.
Wortlos hielt ich ihm den silbergrauen Anzug, das schwarze Hemd und die Auswahl von Krawatten entgegen, die ich mitgebracht hatte. Mit einer Hand fuhr er durch die verschiedenfarbigen Binder.
„Wo ist die Graue? Sag nicht, dass du die vergessen hast? Merde! Hätte ich mir ja denken können, Espèce de crétin. Absolut kein Geschmack!“
Ich hatte Tom noch nie Französisch fluchen gehört. Die Umgebung schien ihn zu einem anderen Menschen zu machen, einem noch Unangenehmeren als sonst. Er riss mir die Sachen aus der Hand. „Ach, noch was! Heute Nacht, wenn ich nach Hause komme, will ich nichts von dir sehen oder hören. Verstanden?“ Mit einer abfälligen Handbewegung verließ er
Weitere Kostenlose Bücher