Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Lammfell sinken, das über dem Stuhlrücken hing. »Misch dich nicht ein, Marco. Hör, was dein Onkel dir sagt.«
Marco sah ihn einen Augenblick an. Samuel hat sich nicht so angestrengt wie du, hatte Zola gesagt. Hieß das tatsächlich, dass Samuel indirekt seinetwegen Prügel bezogen hatte? Dann war es ja sogar noch schlimmer.
Marco senkte den Kopf und sagte so leise, wie er konnte: »Das weiß ich. Aber Samuel ist inzwischen zu alt, um in der Fußgängerzone zu betteln. Die meisten Passanten schauen ihn nicht mal an, und die, die es tun, scheinen sich vor ihm zu fürchten und machen einen Bogen um ihn. Tatsächlich sind es nur die, die …«
Marco bemerkte, wie Zola mit einem Finger in Chris’ Richtung deutete. Er hob genau in dem Augenblick den Kopf, als Chris auf ihn zutrat und ihm eine so schallende Ohrfeige versetzte, dass es im Ohr pfiff.
»Ich sagte, Samuel geht dich nichts an, Marco, hast du mich verstanden?«
»Ja, Zola, aber …«
Chris schlug noch mal zu, und die Botschaft war endgültig angekommen. Marco verzog keine Miene. Wegen so etwas heulte man nicht, wenn man in diesem Milieu aufgewachsen war.
Langsam stand er auf, nickte Zola zu und ging zur Tür. Dabei versuchte er zu lächeln. Zwei Ohrfeigen, und die Audienz war vorbei. Trotzdem nahm er noch einmal all seinen Mut zusammen, als er die Hand schon auf der Klinke hatte.
»Dass du mich geschlagen hast, ist okay«, sagte er und hob den Kopf. »Aber es ist nicht okay, dass du Samuel bestraft hast. Und wenn du noch mal prügelst, haue ich ab.«
Marco sah, wie Chris Zola einen fragenden Blick zuwarf, aber sein Onkel schüttelte nur leicht den Kopf und signalisierte seinem Neffen mit einer raschen Geste, ihm aus den Augen zu gehen.
Als Marco wieder in seinem Bett lag, bemühte er sich, alle ungesagten Argumente zu durchdenken, das hatte er sich angewöhnt. Denn wenn er nur die richtigen Worte gefunden hätte, wäre bestimmt alles viel besser gelaufen. In diesen inneren Dialogen wurde Zola manchmal geradezu umgänglich.
Das war ein Dreh, der ihm zumindest ein wenig Erleichterung verschaffte.
Er ist ganz in Ordnung, der Samuel, würde er zu Zola sagen. Er muss nur irgendwas lernen. Wenn du ihn zur Schule gehen lässt, könnte er zum Beispiel Mechaniker werden und sich um den Lieferwagen kümmern. Er wird nie ein guter Taschendieb sein wie Hector oder ich, dafür ist er viel zu tollpatschig. Also warum ihm nicht eine andere Chance geben?
Allein wenn er sich vorstellte, was er alles vorbringen würde, fühlte er sich besser, aber sobald abends das Licht gelöscht wurde, überkam ihn die Ernüchterung.
Ihr Leben war ein Albtraum.
Zwar waren sie nach außen hin alle nette Menschen, die in ordentlichen Häusern lebten, aber hinter dieser Fassade waren sie ein Haufen skrupelloser Krimineller mit falschen Pässen. Doch das war noch nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass kaum eines der Kinder etwas über seine Herkunft wusste. Auch Marco konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob die Clanmitglieder, die er immer noch Vater und Mutter nannte, seine wirklichen Eltern waren. Ebenso wenig wussten sie, was die Erwachsenen so trieben, wenn die Kinder in der Stadt unterwegs waren, um Geld für Zolas Imperium zu beschaffen. Und das wenige Schöne, an das sich Marco erinnerte, hatte sich unter Zolas neuem Führungsstil in Wohlgefallenaufgelöst, noch bevor sie Italien verlassen hatten. Geblieben waren nur die Straftaten. Nichts hatte sich je zum Besseren verändert. Noch immer gab es unter ihnen nur ganz wenige, die lesen und schreiben konnten, obwohl viele bald erwachsen wurden. Zwar hatte sich jeder von ihnen Fertigkeiten angeeignet, aber ihr Expertentum beschränkte sich nur auf eines: auf die Aneignung fremden Eigentums. Wenn sie zu Raubzügen unterwegs waren, wurden sie alle zu Profis. Betteleien, Taschendiebstahl, Einbruch durch Kellerfenster, Trickdiebstahl bei alten Damen, Überfälle auf Passanten vom Fahrrad aus: Das alles beherrschten sie aus dem Effeff, und besonders Marco zeigte Talent in alle Richtungen. Er konnte mit großen Augen und mitleiderregendem Lächeln betteln. Er konnte lautlos durch kleinste Fenster in fremde Häuser schlüpfen, und auch auf der Straße, zwischen eilig dahinhastenden Menschen war er in seinem Element. Geschickt und blitzschnell nahm er seinen Opfern Uhren und Brieftaschen ab. Er machte keine falsche Bewegung und keinen unnötigen Laut, agierte aber stets überzeugend, wenn es darum ging, seine Opfer
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