Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
abzulenken. Und immer weckte er bei allen Sympathie.
Doch keiner von Marcos Gefährten hasste sein Dasein und alles, was er tat, so abgrundtief wie er.
Wenn Marco im Dunkeln dalag und den Atemzügen der anderen lauschte, stellte er sich oft das Leben vor, das er nicht hatte. Dann sah er die ganz normalen Kinder vor sich, sah, was die vom Leben bekommen hatten. Kinder, die Vater und Mutter hatten, Kinder, deren Eltern zur Arbeit gingen, und die selbst die Schule besuchten. Kinder, die in den Arm genommen oder mit irgendeinem kleinen Geschenk bedacht wurden. Kinder, die jeden Tag gut zu essen bekamen und die Freunde und Verwandte hatten, die sie besuchten. Kinder, die nicht ihr ganzes Leben in der Angst verbrachten, verprügelt oder entdeckt zu werden.
Wenn ihn solche Gedanken quälten, verfluchte er Zola. Als sie damals in Italien lebten, hatte es untereinander immerhinnoch eine Art Gemeinschaft gegeben. Sie spielten am Nachmittag und sangen am Abend. In den Sommernächten, wenn sie ums Feuer saßen, erzählten sie sich die Heldentaten des Tages. Die Frauen machten sich hübsch für die Männer, die Männer plusterten sich auf, und manchmal gerieten sie sich auch in die Haare, und alle brüllten vor Lachen. So war es damals, als sie noch »Zigeuner« waren.
Marco hatte nie begriffen, wie es Zola gelungen war, sich zu ihrem unangefochtenen Anführer aufzuschwingen. Warum hatten sich die Erwachsenen damit eigentlich abgefunden? Was tat er denn schon für sie, außer über ihr Leben zu bestimmen, sie zu terrorisieren und ihnen alles wegzunehmen, was sie sich mühsam ergaunert hatten. Und sie? Sie ließen es klaglos über sich ergehen. Wenn Marco daran dachte, schämte er sich für die Erwachsenen. Und am allermeisten schämte er sich für seinen Vater.
An diesem Abend setzte er sich im Bett auf, wohl wissend, dass er verdammt vorsichtig sein musste. Zola hatte ihm vorhin im Wohnzimmer zwar nicht richtig wehgetan, dafür hatte etwas Unheilverkündendes in seinem Blick gelegen.
Ich muss unbedingt mit Vater über Samuel sprechen, dachte Marco. Mit irgendjemandem muss ich sprechen.
Dabei war er sich alles andere als sicher, ob das helfen würde. Eine Zeit lang schien sein Vater so weit weg gewesen zu sein. Als wäre etwas geschehen, das ihn besonders hart getroffen hatte.
Zum ersten Mal war es Marco vor etwa zwei Jahren aufgefallen: Da hatte sein Vater eines Morgens apathisch und mit gerunzelter Stirn dagesessen und auf sein Essen gestarrt. Marco hatte geglaubt, er sei krank, aber am folgenden Tag war er wieder voller Energie gewesen und hatte lebhafter gewirkt als all die Monate zuvor. Es hieß, er würde jetzt Kat kauen, wie so viele andere auch. Trotzdem: Die tiefen Falten auf seiner Stirn verschwanden nicht mehr. Marco hatte sich so alleingelassengefühlt mit seinen Sorgen, dass er sich schließlich Miryam anvertraute und sie fragte, ob sie etwas wüsste.
»Quatsch, du träumst, Marco. Dein Vater ist so wie immer«, sagte sie und versuchte zu lächeln.
Danach sprachen sie nie mehr über das Thema, und Marco gab sich alle Mühe, es wegzuschieben.
Aber dann, vor einem halben Jahr, kehrte der seltsame Ausdruck ins Gesicht seines Vaters zurück, wenn auch mit einer anderen Facette. In der Nacht hatte es eine große Unruhe im Flur gegeben, aber da die Kinder ihre Zimmer nach zweiundzwanzig Uhr nicht mehr verlassen durften, konnte niemand von ihnen die Ursache gewesen sein.
Marco hatte der Tumult draußen auf dem Gang aus einem Traum gerissen. Dem Stöhnen nach zu urteilen, bekam irgendjemand gerade eine Abreibung. Es musste so brutal zugegangen sein, dass sich allein die Kenntnis dessen, was sich dort abgespielt hatte, am nächsten Morgen wie ein Brandmal im Gesicht seines Vaters abzeichnete. Aber Marco hatte keine Ahnung, um wen und um was es gegangen war. Nur so viel war klar: Es hatte niemanden aus dem Clan getroffen, das hätte er gewusst.
Von da an hatte sein Vater bei Lajla geschlafen. Zu ihrem Zimmer auf der anderen Seite des Wohnzimmers schlich sich Marco nun über den Flur.
Gerade wollte er sich an der Wohnzimmertür vorbeidrücken, da hörte er die Stimme seines Vaters. Er protestierte heftig, wurde aber von Zola rüde unterbrochen. Als sein Name fiel, blieb Marco stehen und lauschte.
»Wenn wir den Widerstand deines Sohns nicht endlich brechen, verlieren wir nicht nur einen Großteil unserer Einnahmen, sondern riskieren auch, dass er sein Gift auf die anderen überträgt. Wir müssen damit rechnen,
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