Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
und die Beine zitterten, als herrsche Eiseskälte. Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und rutschte den Stuhl hinab auf den Boden.
»Was ist denn hier los?«, hörte er Rose.
Er nahm noch wahr, dass sie ins Zimmer stürzte und ihn fragte, wo er Schmerzen habe. Aber dass sie ihn zur Wand zog und seinen Oberkörper dagegenlehnte, bekam er nicht mehr mit.
Sie berührte seine Schulter, und da hörte er plötzlich seinen eigenen tiefen Schluchzer und spürte, wie von seinem Zwerchfell etwas Wellenartiges aufstieg.
»Carl, was ist passiert?«, fragte sie leise und zog seinen Kopf an sich.
Er antwortete nicht gleich. Spürte einfach nur ihre Haut und ihren Duft und ihren Atem und hielt die Luft an. Die Nähe, die Angst, das Unerklärliche nahmen überhand, füllten alles aus.
»Soll ich Hilfe holen, Carl?«
Er schüttelte den Kopf, und allmählich ging sein Weinen in lautloses, stoßartiges Ausatmen über.
»Hast du so etwas schon mal gehabt?«
Er versuchte, erneut den Kopf zu schütteln, aber diesmal gelang es ihm nicht.
»Vielleicht so ähnlich«, stammelte er mit Mühe, ohne zu wissen, ob es stimmte.
Da ermahnte sie ihn, sich auf seinen Atem zu konzentrieren und die Augen zu schließen. »Du kannst die Welt im Moment nicht gebrauchen, Carl«, sagte sie ruhig, zog ihn noch dichter an sich und hielt ihn fest.
»Wir bleiben hier sitzen, Carl, bis es dir besser geht. Ich gehe nirgendwohin, in Ordnung? Wir sind uns gegenseitig Familie, ob uns das nun gefällt oder nicht.«
Er nickte und schloss die Augen.
Ihm war in diesen Minuten durchaus bewusst, dass es eine Frau war, die ihre Ruhe mit ihm teilte, nicht bloß Rose. Und tatsächlich gelang es ihm, sich auf seinen Atem zu konzentrieren – und die Welt auszuschließen.
33
Für Boy war der Tag des Aufbruchs gekommen. Aus diesem Anlass gingen ihm die unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf, eine ganze Flut von Überlegungen.
Es waren gute Jahre gewesen mit Brage-Schmidt als Arbeitgeber. Boy hatte keinen Grund zur Klage gehabt, aber die Zeiten hatten sich geändert.
Deshalb lag sein Koffer fertig gepackt auf seinem Bett in Brage-Schmidts Villa. Aus dem begehbaren Kleiderschrank hatte er Anzüge ausgewählt, Schmuck und Uhren lagen in einer Stahlkassette daneben. Das Ticket für den Flug morgen Abend war bereits gebucht.
Es waren kreative Jahre gewesen. Aber sollte man nicht aufhören, wenn es am schönsten war? Brage-Schmidt hatte ihn oft als seinen Sekretär und persönlichen Assistenten vorgestellt. Tatsächlich aber hatte er ihm hinter den Kulissen völlig freie Hand gelassen, Probleme und anfallende Aufgaben zu lösen. Boy hatte Geschäftspartner erpresst, falsche Anschuldigungen gegen Konkurrenten lanciert oder Absprachen zum Edelsteinschmuggel mit einem Lieferanten von Flugzeug-Rettungswesten getroffen. Oder damals vor fünf Jahren, als er mit Mammy und zwei ihrer Jungs einen Raubüberfall auf die Karrebæk-Bank inszeniert hatte, um einen fatalen Mangel an Liquidität zu vertuschen. Ganz zu schweigen von diversen Drohungen gegen Beamte und Versicherungsangestellte in rund einem Dutzend Ländern. Doch, ja, die Verbindung zu Brage-Schmidt hatte ihm eine Menge gebracht. Bis hin zu Mord und Kidnapping war es gegangen, ausgeführt letztlich von Menschen, die ihm auf lokaler und globaler Ebene zuarbeiteten.
Und nun war es an ihm selbst, eine solche Aufgabe zu erledigen – um des Geschäfts und um seiner selbst willen. Nur dieses eine Mal. Dann wäre er weg, so war es geplant.
Den ganzen Tag über hatte er Mammys Schachzüge verfolgt. Sie hatte bereits an etlichen Stellen in Kopenhagen vermeintliche Rollstuhlfahrer als Späher und Wachposten platziert, die aber auch bereit waren zuzuschlagen, falls Marco in ihre Nähe kam. In Østerbro hatten ihre Jungs ein paar Ukrainer verprügelt, die sich geweigert hatten, ihre Befehle auszuführen, und an sämtlichen S-Bahnhöfen und belebteren Bushaltestellen hatte sie Männer installiert, denen zehntausend Euro in Aussicht gestellt wurde, wenn sie den Jungen einfingen.
Dabei hatten sie ihn zweimal schon fast gehabt. Doch was war daraus geworden? Der eine Soldat hatte aus der Begegnung mit dem Jungen eine zwanzig Zentimeter lange Schnittwunde an der Hüfte davongetragen, als sie ihn aus einer Schuttrutsche befreien mussten. Und der andere hatte ein derart blutunterlaufenes Auge, dass er eine Sonnenbrille tragen musste, um nicht aufzufallen. Sie hatten ihn fast erwischt, das war beachtlich, aber mehr
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