Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Seite, mit der man Nägel herauszog, spitz wie ein Speer. Als Waffe sehr brauchbar.
Marco fürchtete sich nicht mehr. Gefühle wie Angst oder Furcht hatte man, solange man am Leben hing, vom Glauben an die Zukunft erfüllt war und Menschen hatte, die einem etwas bedeuteten. Der Hass aber verdrängte sowohl die Liebe als auch die Furcht.
Und im Moment war Marco erfüllt von Hass.
Zola hatte seinen Vater vor seinen Augen ermordet. Marco war klar, dass das nicht passiert wäre, wäre er nicht aufgekreuzt. Also war es indirekt auch seine Schuld. Marcos Verzweiflung, vielleicht auch seine reine Anwesenheit, hatten den Vater bewogen, aus Zolas Schatten zu treten und sich auf die Seite seines Sohnes zu stellen.
Marco schaute in den Himmel. Sein Vater! Könnte er diese Worte liebkosen, er würde es tun, so tiefe Gefühle erzeugten sie in ihm.
Doch dann riss er sich aus seinen Gedanken und inspizierte die Schuttrutsche, durch die er am Vortag entkommen war.
Sie war natürlich leer, der Afrikaner hatte sich befreien können. Und obwohl ihm eben noch so schwer ums Herz gewesen war, musste Marco bei dem Gedanken an diese Szene unwillkürlich grinsen.
Erst als er im dritten Stock angekommen war, fühlte er sich einigermaßen sicher. Alles war ruhig. Es war Feierabend. Nur einige wenige Arbeiter waren noch unten in den Baustellencontainern beschäftigt.
Wenn er sich nun bis zum Einbruch der Dunkelheit ruhig verhielt, konnte er eine weitere Nacht in diesem Rohbau verbringen. Natürlich könnte einer seiner Verfolger auf die Idee kommen, dass er entgegen jedem gesunden Menschenverstand hierher zurückgekehrt war, die Möglichkeit gab es immer. Aber er war bereit, es auf eine Begegnung ankommen zu lassen.
Und wenn die Nacht doch ruhig blieb, würde er morgen nach Kregme fahren und mit Zola abrechnen. Leicht würde das allerdings nicht werden.
Er zog einen Gasbetonstein dicht an die niedrige Außenwand und nutzte ihn als Sitzgelegenheit. Wenn er sich nun mit den Unterarmen auf der Betonmauer abstützte, konnte er wie ein König sein Reich im weiten Umkreis überblicken, von der Langebro-Brücke über all die schönen Bauwerke bis hinüber zu den Seen.
Bald war es fünf. Demnächst würde Chris mit dem gelben Lieferwagen vorfahren, um den Trupp einzusammeln.
Aber noch war niemand von denen eingetrudelt. Stattdessen fielen ihm mehrere Männer auf, die nahezu reglos an den Straßenecken der Vestergade und auf der anderen Seite der Vesterbrogade standen – und alle schienen sie das Baustellengebäude zu beobachten. Hatten die etwa ihn im Visier? Waren das Polizisten in Zivil? Dafür fehlten eigentlich die Hinweise, die das üblicherweise verrieten – der einvernehmliche Blickkontakt, der kontrollierte Gang, die Beulen hinten in der Jacke oder vorne auf Höhe der Rippen, die Hände, die in den Jackentaschen steckten. Aber vielleicht konnte er all diese Hinweise aus der Distanz auch nur nicht erkennen.
Jetzt entdeckte er Miryam. Sie humpelte von der Farvergade heran, zwei der anderen Clanmitglieder kamen aus der Fußgängerzone. Als sie den Rathausplatz überquerten, drehten die Männer an den Straßenecken ihre Oberkörper unmerklich in ihre Richtung. Marco sah sich bestätigt, es waren Polizisten.
Dann war also jetzt der Clan dran. Und er selbst hatte es eingefädelt: mit seiner Nachricht auf dem Strafzettel. Doch im Moment schien ihm das völlig falsch gelaufen zu sein. So würden doch nur die kleinen Handlanger auffliegen. So würde es doch nicht Zola selbst treffen!
Am liebsten hätte er Miryam und den anderen zugerufen,sie sollten abhauen. Aber da bog schon der gelbe Lieferwagen um die Ecke der Vesterbrogade und steuerte auf die Schar zu.
Marco hatte erwartet, dass sie wie immer die Seitentüren aufschieben und nach drinnen verschwinden würden. Doch stattdessen stieg Chris heute auf der Beifahrerseite aus und redete auf die Clanmitglieder ein, er schien ihnen irgendetwas zu erklären. Er hatte eine schwarze Tasche in der Hand und wirkte auf die Entfernung nicht sonderlich furchteinflößend. Aber warum stand er überhaupt dort? Warum fuhren sie nicht einfach los? Und wer saß hinterm Steuer?
Da sah er, wie seine früheren Mitstreiter Gegenstände in die schwarze Tasche warfen – und sich dann urplötzlich in alle Richtungen verstreuten, als die Zivilpolizisten auf sie zustürmten.
Chris drehte sich gerade zur offenen Beifahrertür, als Marco schlagartig klar wurde, dass niemand anders als Zola am Steuer sein
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