Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Unfall war. Hilft das, Ihre Zunge zu lösen?«
Miryam wandte den Kopf ab. In ihrem Gesicht war nicht mal die Andeutung einer Reaktion zu sehen.
»Heute im Laufe des Tages wurde in Østerbro ein Mann getötet. Er geriet ebenfalls unter ein tonnenschweres Fahrzeug: Wie aus dem Nichts ist er vor einen Bus gestürzt. Wir wissen, dass er ebenfalls zu Ihrem Clan gehörte, wir haben ihn gesehen, als wir uns vor einigen Tagen draußen in Kregme mit Zola unterhielten. Dürfen wir Ihnen ein Foto vom Gesicht des Toten zeigen?«
Sie antwortete nicht. Da schob Rose ihr das Foto hin.
Eine halbe Minute dauerte es, dann siegte ihre Neugier, und sie schaute das Bild an.
Ihre Reaktion zeigte sich weniger in ihrem Gesichtsausdruck. Nein, sie kam von tief innen. Unwillkürlich zog sie ihren Bauch ein, neigte sich leicht nach vorn und korrigierte ihre Beinhaltung.
»Wer ist das?«, fragte Carl. »Jemand, den Sie mochten?«
Sie antwortete nicht.
»Wir finden es schon heraus. Wir haben hier im Präsidium noch andere von euch, die wir fragen können«, sagte Rose. »Und die Männer sind eindeutig diejenigen, die am meisten reden. Warum ist das eigentlich so, Miryam? Habt ihr Frauen Angst, geschlagen zu werden? Woher zum Beispiel stammt diese Verletzung an deinem Bein?«
Sie antwortete immer noch nicht.
Da trat Assad vor, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Miryam, fast so, als sei er ihr hilfsbereiter Anwalt, der gern an ihrer statt antworten würde.
»Sie redet nicht, warum fragt ihr also nicht mich?«, sagte er ruhig und blickte Rose an.
Die runzelte die Stirn, doch Carl nickte. Warum nicht?
»Redet sie nicht, weil sie Angst hat, geschlagen zu werden, Assad?«
»Nein. Sie hat Angst, nirgendwohin zu gehören, deshalb.«
Das Mädchen drehte den Kopf und sah ihn von der Seite an. Ob sie erstaunt war oder ihn nur nicht richtig verstanden hatte, war nicht zu erkennen.
»Außerdem hat sie Angst vor sich selbst«, fuhr Assad fort. »Angst, dass sie bleiben muss, was sie ist. Eine Bettlerin und Diebin, mit der niemand etwas zu tun haben will außer den Mitgliedern ihrer sogenannten Familie. Und sie fürchtet, die könnten glauben, dass sie mehr ausplaudert, als sie tut. Und zu guter Letzt fürchtet sie, dass ich sie jeden Moment windelweich prügeln werde.«
Carl wollte gerade protestieren, da bemerkte er, wie sich Miryams Gesichtsausdruck veränderte. Ihr Blick war jetzt höchst aufmerksam.
»Hör auf«, protestierte Rose, aber Carl legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Assad hat recht. Genau davor hat sie Angst. Auch davor, dass wir sie ins Sandholm-Lager stecken, zusammen mit denen, die wissen, dass sie ausgepackt hat. Ich verstehe sie jetzt besser, Assad.«
Er wandte sich an das Mädchen, deren Fäuste sich um ihre Daumen ballten.
»Sie wissen, wer Marco ist, stimmt’s?«
»Ich hab doch gesagt, dass ich nichts mehr sage.« Sie sprach so leise, dass sie kaum zu verstehen war.
Okay, also wurde sie doch etwas zugänglicher.
»Kannst du mir erzählen, Rose, was wir für Miryam tun können? Also, falls sie uns hilft herauszufinden, was mit Marco los ist?«, fragte Carl.
Rose kniff die Augen zusammen. »Ich will darüber gar kein Wort verlieren, solange Miryam nicht redet. Aber Assad möchte ich etwas sagen: nämlich, dass Marco zu Tode gejagt wird, wenn das Mädchen uns nicht hilft.«
»Wie meinst du das, Rose?«
»Ich denke, dass Miryam sehr wohl weiß, wer Marco ist, und dass sie sich ihm verbunden fühlt – was ich verstehen kann, denn Marco ist ein guter Junge.«
Kurz wägte Carl die Situation ab. Vernehmungen waren eine Kunst, die nur die wenigsten beherrschten. Und sie standen offenkundig gerade vor einem Problem. Dennoch war das, was Assad und Rose hier spielten, interessant – auch wenn er Assads Plan noch nicht ganz durchschaute. Aber Miryam war inzwischen ganz sicher klar, dass sie mit ihrem Schweigen nicht davonkommen würde.
»Du hast mit Marco zusammengewohnt, das wissen wir bereits«, fuhr Rose fort. »Zola hat uns erzählt, dass der Junge bei euch aufgewachsen ist. Warum kannst du das nicht einfach sagen? Hast du ihn vielleicht gehasst?«
»Sie hat ihn nicht gehasst«, antwortete Assad.
»Warum antwortet sie dann nicht?«, fragte Rose.
»Weil sie …« Blitzschnell verrückte Assad seinen Stuhl, sodass er Miryam gegenübersaß, und umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. »Weil sie sich schämt. Deshalb.«
Jetzt wird’s Zeit einzugreifen, bevor er richtig loslegt, dachte
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